Kritik12. Oktober 2018 Irina Blum
Das Aussteigerdrama «Leave No Trace» geht unter die Haut
Nach dem preisgekrönten Hinterland-Thriller «Winter’s Bone» legt US-Filmemacherin Debra Granik mit «Leave No Trace» eine weitere spannende Aussenseiterstudie vor, die ohne überzogene Dramatisierungen auskommt und dennoch tief unter die Haut geht.
Filmkritik von Christopher Diekhaus
Inmitten eines riesigen öffentlichen Parks am Rande von Portland führen Will (Ben Foster) und seine dreizehnjährige Tochter Tom (Thomasin McKenzie) ein einfaches, naturverbundenes Leben. In die Stadt verschlägt es die beiden nur dann, wenn sie neue Vorräte besorgen müssen und der Vater die ihm verschriebenen Schmerzmittel auf dem Schwarzmarkt zu Geld machen will.
Eines Tages wird das gut versteckte Waldlager der Aussteiger von Polizisten gestürmt und das Gespann zwecks behördlicher Untersuchungen fürs Erste auseinandergerissen. Kurz darauf führt das Sozialamt Vater und Tochter jedoch wieder zusammen und bringt sie schliesslich auf der Farm des hilfsbereiten Mr. Walters (Jeff Kober) unter, wo sich Tom langsam an einen geregelten Alltag mit sozialen Kontakten gewöhnt. Will hingegen spielt rasch mit dem Gedanken, abermals Reissaus zu nehmen.
«Leave No Trace», eine Adaption von Peter Rocks Roman «My Abandonment», erinnert in den Grundzügen stark an das charmante Roadmovie «Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück», hebt sich in der Art und Weise, wie die Handlung vorgetragen wird, jedoch spürbar von der Tragikomödie aus dem Jahr 2016 ab, die Viggo Mortensen als harten, aber ebenso liebevollen Patriarchen einer Aussteigersippe zeigt.
Während Matt Ross einige formelhafte Wendungen und Konflikte in seiner Erzählung unterbrachte, halten sich Granik und Koautorin Anne Rosellini mit dramaturgischen Zuspitzungen merklich zurück und verleihen ihrem Vater-Tochter-Drama so eine erstaunlich authentische Wirkung.
Nach und nach entwickelt sich die Romanadaption zu einer ergreifenden Coming-of-Age-Geschichte.
Dass nichts gekünstelt erscheint, liegt freilich auch an den sensiblen Darbietungen der beiden Hauptdarsteller, denen es vorzüglich gelingt, die Gefühlswelt der Protagonisten mit kleinen Gesten, Blicken und Gesichtsausdrücken in den Kinosaal zu transportieren. Was Wills Getriebenheit betrifft, geht der Film mit Erklärungen sparsam um.
Wie stark seine Verunsicherung ausgeprägt ist, deutet sich allerdings schon in seiner Reaktion auf laute, dröhnende Geräusche und in seiner Entscheidung an, Tom von der Gesellschaft zu isolieren. Die Angst sitzt offenbar ziemlich tief und kann nicht einfach überwunden werden.
Nach und nach entwickelt sich die Romanadaption zu einer ergreifenden Coming-of-Age-Geschichte, die auch deshalb sehenswert ist, weil sie einige interessante Begegnungen mit ungewöhnlichen Menschen zu bieten hat und ein aufrichtiges, Hoffnung spendendes Miteinander beschreibt. Amerika ist nicht überall so gespalten und zerrissen, wie es die derzeit stark aufgeheizte Lage vermuten lässt.
4.5 von 5 ★
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