Artikel26. Juli 2023 Michelle Knoblauch
Filmtagebuch: Autorenfilmer in Hollywood – Das bildgewaltige Täuschungskino des Christopher Nolan
Christopher Nolan, ein einzigartiger Filmemacher, der abseits bekannter Marken wie Marvel und DC Massen ins Kino zieht. Mit zwölf Spielfilmen, darunter «Oppenheimer», einem Biopic über den «Vater der Atombombe», prägt er seit fast zwei Jahrzehnten das Blockbuster-Kino.
Von Christopher Diekhaus
Heute, da oft nur noch Marken – Marvel, DC und Co – die Massen in die Kinos locken, gehört Christopher Nolan zu den wenigen Filmemachern, deren Name allein für gespannte Erwartungen sorgt: Seit fast zwei Jahrzehnten mischt er das Blockbuster-Kino auf und beweist, dass in der oft so konventionell gestrickten Hollywood-Maschinerie Platz für ambitionierte Spektakelstreifen ist. Mit «Oppenheimer», einem Biopic über den «Vater der Atombombe», lief am 20. Juli 2023 sein zwölfter Spielfilm an. Grund genug, uns dem Schaffen Nolans ausführlicher zu widmen. Konzentrieren wollen wir uns dabei auf sechs unterschiedliche Aspekte.
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1. Verschachtelte Erzählungen
Bekannt ist der in London geborene, seit dem Beginn seiner Karriere auch als Drehbuchautor tätige Christopher Nolan vor allem für seine erzählerischen Verwirrspiele, die mit den Konventionen des klassischen Hollywood-Kinos brechen. Schon sein Debütfilm «Following» (1998), ein mit wenig Geld und viel familiärer Unterstützung entstandener Noir-Krimi um einen in eine Intrige geratenden Voyeur, nutzt eine nicht lineare Plot-Struktur, um die Zuschauer zu überraschen.
Dass Nolans Faible für komplexe narrative Experimente kein purer Selbstzweck ist, belegt das Nachfolgewerk «Memento» (2000) auf eindrucksvolle Weise. Im Zentrum steht hier ein Mann, der nach einem angeblichen Überfall nur für kurze Zeit neue Erinnerungen bilden kann und auf der Suche nach dem Mörder seiner Frau Zettel und Tattoos als Hilfsmittel benutzt. Zwei Handlungsstränge wechseln sich ab, wobei einer in chronologisch korrekter Reihenfolge angeordnet ist, während der andere rückwärts abläuft, also vom Ende zum Anfang strebt. Die durch diese Erzählweise ausgelöste Orientierungslosigkeit spiegelt eindringlich den Zustand des Protagonisten, der sich nach etwa zehn Minuten nicht mehr an das kurz zuvor Erlebte erinnern kann. Form und Inhalt gehen hier definitiv Hand in Hand!
Wendungsreich und raffiniert konstruiert ist auch der Historienthriller «The Prestige» (2006) über zwei konkurrierende Zauberkünstler im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Actionthriller «Inception» (2010), der Manipulationsmöglichkeiten im Schlafzustand thematisiert, bezieht seinen Reiz aus dem Wechsel zwischen unterschiedlichen Traumebenen. Wurmlöcher und Zeitreiseparadoxien bestimmen den Aufbau des Science- Fiction-Dramas «Interstellar» (2014). Im Kriegsfilm «Dunkirk» (2017) schildert Christopher Nolan in drei parallel geführten Plot-Strängen aus der Wasser-, der Luft- und der Landperspektive die 1940 stattfindende Evakuierung britischer Soldaten aus Dünnkirchen. Die Umkehrung zeitlicher Vorgänge ist die Besonderheit des Agentenblockbusters «Tenet» (2020), in dem die namenlose Hauptfigur die Zerstörung der gegenwärtigen Welt durch einen Angriff aus der Zukunft verhindern muss.
Der kleine Twist am Schluss verleiht dem biografischen Drama um den Leiter des ersten US-Atombombenprojekts noch einmal eine ordentliche Portion Wucht.
Angesichts von Nolans Vorliebe für mutige Erzählstrukturen verwundert es nicht, dass auch «Oppenheimer» alles andere als ein schlicht gebautes Biopic ist. Statt sich Schritt für Schritt am Leben und Wirken des theoretischen Physikers Robert Oppenheimer entlang zu hangeln, springt de Film hin und her, liefert dem Publikum Bruchstücke, die sich erst in der letzten Szene zu einem umfassenden Bild zusammenfügen. Der kleine Twist am Schluss verleiht dem biografischen Drama um den Leiter des ersten US-Atombombenprojekts noch einmal eine ordentliche Portion Wucht.
2. Zerrissene Männer und moralische Ambivalenz
Keine Frage, das Kino von Christopher Nolan ist stark männlich geprägt. Frauen spielen Nebenrollen, sind weniger facettenreich gezeichnet. In «Oppenheimer» trifft das auf jeden Fall auf die von Florence Pugh verkörperte Geliebte des Protagonisten zu. Emily Blunts Figur Kitt, die Ehefrau des Wissenschaftlers, erhält hingegen etwas mehr Raum und sorgt vor allem gegen Ende für einige Ausrufezeichen.
Komplexere Porträts sind in Nolans Filmen dennoch den Männern vorbehalten. «Memento» etwa setzt sich über die fragmentarische Wahrnehmung des Helden mit spannenden Identitätsfragen auseinander. Existenzielle Überlegungen offenbart auch der Crime-Thriller «Insomnia» (2002), in dem es in der Einöde Alaskas zu einem packenden Katz-und-Maus-Spiel zwischen einem schuldgeplagten, von Schlaflosigkeit heimgesuchten Ermittler und einem Mörder kommt. Sein Interesse für psychologische Feinheiten und gebrochene Charaktere überträgt Nolan selbst auf den Superheldenkosmos.
«Oppenheimer» wirft das Bild eines genialen, aber auch narzisstischen, seine Mitmenschen brüskierenden Forschers an die Wand.
In seiner Batman-Trilogie zeigt er Christian Bales Dunklen Ritter als einen seelisch mehr und mehr angegriffenen Kämpfer, der das typische Gut-Böse-Schema Hollywoods sprengt. «Oppenheimer» wirft das Bild eines genialen, aber auch narzisstischen, seine Mitmenschen brüskierenden Forschers an die Wand. Einerseits treibt er sein Projekt mit Leidenschaft, fast schon Obsession voran. Andererseits entwickelt er sich zu einem Zweifler, dem die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schwer zu schaffen machen.
3. Handgemachte Action
Sehr klar positioniert sich Christopher Nolan als ein Verfechter handgemachter Actionszenen und der Arbeit an tatsächlichen Sets. Digitale Hilfsmittel kommen natürlich auch bei ihm zum Einsatz. Wann immer möglich, versucht der in grossen Bildern denkende Regisseur aber, auf eine derartige Unterstützung zu verzichten. Für «Tenet» beispielsweise liess er ein echtes Flugzeug in einen Hangar krachen und explodieren.
Im Vergleich mit so manchem CGI-lastigen Superheldenfilm der Gegenwart profitieren seine Batman-Arbeiten ungemein von ihren praktischen Stunts und Effekten. In «The Dark Knight» etwa fliegt ein riesiges Gebäude in die Luft, bei dem es sich laut Geschichte um ein Krankenhaus, in Wahrheit um eine stillgelegte Süssigkeitenfabrik handelt. Mit «Oppenheimer» nimmt Nolan offenkundig keinen Kurswechsel vor. Einen wirklichen Atombombentest, wie vorab gemutmasst wurde, hat der Autorenfilmer zwar nicht in seinem Biopic untergebracht. Den digitalen Holzhammer lässt er jedoch einmal mehr stecken.
4. Ton als Spannungsantreiber und Blick in die Seele
Bombastisch – mit diesem Adjektiv belegen viele Filmkritiker Nolans Verwendung der Tonspur. Zweifelsohne übertreibt es der Regisseur in seinem Streben nach einem fesselnden Kinoerlebnis immer mal wieder mit Soundeffekten und Musik. Gleichzeitig gelingt es ihm aber auch sehr häufig, auf diese Weise enormen Druck, enorme Anspannung zu erzeugen. Der pumpende Score der Batman-Filme verleiht der Reise des Dunklen Ritters eine gewaltige Dringlichkeit und zieht den Zuschauer rettungslos in das Geschehen hinein.
Nicht anders ist es in «Oppenheimer», wo ganze Passagen durch die treibende Tonspur zu vibrieren scheinen und der historische Stoff zunehmend zu einem nervenaufreibenden Thriller avanciert. So stark wie vielleicht noch nie in seinem Schaffen nutzt Nolan allerdings den Sound, um die psychische Verfassung seines Protagonisten zu veranschaulichen. Mehrfach schwellen Geräusche – ein Klopfen oder Jubel – orkanartig an und verdeutlichen, wie sehr die Ereignisse, sein eigenes Wirken Oppenheimer aufwühlen.
5. Begeisterung für Physik
Christopher Nolans Interesse für physikalische Vorgänge und kühne wissenschaftliche Gedankenspiele zeigt sich schon seit «Inception». Ausführliche, teils komplizierte Überlegungen finden sich zudem in «Interstellar» und «Tenet» – wobei der Regisseur manchmal zu einem echten Erklärbär mutiert.
Mit der aus dem Physikkosmos stammenden Hauptfigur fügt sich «Oppenheimer» bestens in diese Liste ein. Im Gegensatz zu «Inception» und «Tenet» basiert der neue Film aber nicht auf einer High-Concept-Sci-Fi-Idee, sondern auf dem Leben des Mannes, der die Atombombe entwickelte. Einige fachliche Hinweise gibt es auch dieses Mal. Wichtiger als physikalische Entdeckungen und Erläuterungen sind Nolan jedoch die Zerrissenheit des Titelhelden und die politischen Verwicklungen rund um den Bau der nuklearen Waffe.
6. Wiederkehrende Mitstreiter
Filmemacher umgeben sich gerne mit Menschen, mit denen sie schon früher erfolgreich zusammenarbeiten konnten. Christopher Nolan ist in dieser Hinsicht wohl ein besonders hervorstechendes Exemplar. Seine Ehefrau Emma Thomas ist seit «Following» als Produzentin zumeist an seiner Seite. Bruder Jonathan Nolan arbeitete mehrmals, etwa bei «The Prestige» und «Interstellar», als Drehbuchautor mit.
Vor Ludwig Göransson, der die letzten beiden Filme Nolans als Komponist betreute, war wiederholt Hans Zimmer für die Musik verantwortlich. Bis einschliesslich «Inception» füllte Wally Pfister den Part des Chefkameramanns aus. Eine Rolle, die ab «Interstellar» Hoyte van Hoytema übernahm.
Auch unter den Schauspielern gibt es viele vertraute Gesichter. Michael Caine zum Beispiel trat in gleich acht Filmen auf. Cillian Murphy, der oscarverdächtige Hauptdarsteller von «Oppenheimer», bringt es immerhin auf sechs Kollaborationen mit Christopher Nolan.
Hier kannst du dir die Filme von Christopher Nolan anschauen
- «Following» (1998)
- «Memento» (2000) verfügbar on Demand auf AppleTV+
- «Insomnia» (2002) verfügbar on Demand auf AppleTV+
- «Batman Begins» (2005) verfügbar auf Netflix und Amazon Prime
- «Prestige - Die Meister der Magie» (2006) verfügbar auf Netflix
- «The Dark Knight» (2008) verfügbar auf Netflix und Amazon Prime
- «Inception» (2010) verfügbar auf Netflix
- «The Dark Knight Rises» (2012) verfügbar auf Netflix und Amazon Prime
- «Interstellar» (2014) verfügbar auf Netflix und Amazon Prime
- «Dunkirk» (2017) verfügbar on Demand auf AppleTV+
- «Tenet» (2020) verfügbar on Demand auf AppleTV+
- «Oppenheimer» (2023) zu sehen im Kino
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