Artikel25. April 2023 Cineman Redaktion
Filmtagebuch: Die Welt aus den Fugen: Seelische Abgründe im Film
Seelische Vorgänge spielen im Film seit jeher eine bedeutende Rolle, lässt sich doch mit Bildern, Tönen, Schnitten subjektives Empfinden höchst wirkungsvoll beschreiben. Eine besonders ambitionierte Kostprobe bietet Ari Asters dritte Regiearbeit «Beau Is Afraid», in der ein hochgradig neurotischer Mann von seinen grössten Ängsten überrollt wird. Zum Start dieser ebenso herausfordernden wie kreativen Albtraumkomödie möchten wir auf einige andere Werke blicken, die aus der Sicht einer verunsicherten, mitunter gar wahnsinnigen Hauptfigur erzählen.
Artikel von Christopher Diekhaus
1. «Der Mieter» (1976)
Gruselige Identitätskrise von und mit Roman Polanski
Das Abgleiten in den Wahnsinn zeichnete Roman Polanski schon in seinem ersten englischsprachigen Film «Ekel» (1965), in dem Catherine Deneuve eine fragile, sich zunehmend bedroht fühlende junge Frau verkörpert, auf beklemmende Weise nach. Elf Jahre später legte der französisch-polnische Regisseur eine ganz ähnliche Arbeit vor. «Der Mieter» zeigt ihn selbst als einen verhuschten Bankangestellten, der eine freigewordene Wohnung in einem Pariser Mietshaus findet und nach dem Einzug glaubt, zu seiner in den Tod gesprungenen Vorgängerin zu werden.
Der absurde Humor, das Gefühl durchdringender Isolation und das betont aggressive Verhalten der Nachbarn, drei zentrale Merkmale dieses garstigen Identitätsthrillers, scheinen Ari Aster bei «Beau Is Afraid» direkt beeinflusst zu haben. Bemerkenswert ist nicht nur Polanskis nervös-vibrierende Darbietung des Protagonisten. Ins Auge sticht auch die Idee, ganz alltägliche Dinge mit ungeheurem Schrecken aufzuladen. Bis zum bitteren Schluss baut sich ein enormer Druck auf, verschränken sich Realität und Imagination immer unauflöslicher.
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2. «Stay» (2005)
Psychiater gerät in rätselhaften Strudel
Ein Psychiater (Ewan McGregor) nimmt sich eines jungen Künstlers (Ryan Gosling) an, den ein Unfall komplett aus der Bahn geworfen hat. Der Patient gibt merkwürdige Prophezeiungen von sich und will sich zu einem bestimmten Zeitpunkt umbringen. Beim Versuch, den Todessehnsüchtigen zu retten, verschwimmen für den Therapeuten Fantasie und Wirklichkeit mehr und mehr.
Die Kritik zeigte sich nicht gerade begeistert über den Thriller des Deutsch-Schweizers Marc Forster, der am Ende eine Reihe der sich einstellenden Seltsamkeiten mit einem Twist erklärt. Unbestreitbar überrascht das Verwirrspiel mit originellen Bildeinfällen und einem raffinierten Schnitt. Die Rolle des lebensmüden, grüblerischen Patienten ist zudem wie gemacht für den jungen Ryan Gosling.
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3. «Bug» (2006)
Schwer erträglicher Paranoia-Thriller
Viel bedrückender als in William Friedkins «Bug» kann man menschliche Ängste und menschliche Verschwörungsfantasien nicht bebildern. Im Zentrum stehen eine Kellnerin (Ashley Judd), die sich vor ihrem brutalen Ex-Mann fürchtet, und ein Irakkriegsveteran (Michael Shannon), der fest daran glaubt, Opfer eines Insektenexperiments geworden zu sein. Ein schäbiges Motelzimmer wird für die beiden Aussenseiter zu einem Rückzugsort, an dem sie sich hoffnungslos in ihren aberwitzigen Theorien verrennen.
Räumlich und darstellerisch begrenzt, kreiert der Film ein hermetisches System, das durch die immer fiebrigeren Performances zusätzliches Unbehagen erzeugt. Zusammen mit den Hauptfiguren steigert sich der Thriller im letzten Drittel in einen nur schwer erträglichen Wahn, spiegelt dabei aber gekonnt die nach 9/11 in den USA aufkommende Paranoia-Stimmung. Heutzutage, da sich Fake News, irre Untergangsideen und Realitätsverweigerung durch soziale Medien noch stärker ausbreiten, wirkt «Bug» glatt noch eine Spur beängstigender als zur Entstehungszeit.
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4. «Vinyan» (2008)
Mutter gibt vermisstes Kind nicht auf
Verschwindet ein geliebter Mensch, ist es schier unerträglich, nicht genau zu wissen, ob er noch lebt. Ein Stück Hoffnung bleibt erhalten, bis zu dem Tag, an dem sterbliche Überreste gefunden werden. An einen Strohhalm klammert sich in Fabrice du Welz‘ Horrordrama «Vinyan» auch eine französische Touristin (Emmanuelle Béart), die ihren Sohn während des verheerenden Tsunamis 2004 in Thailand verliert. Als sie in einem Video ihr Kind wiederzuerkennen glaubt, bricht sie mit ihrem Ehemann (Rufus Sewell) zu einer Suche in unwegsames Gelände auf.
Anleihen bei Francis Ford Coppolas New-Hollywood-Glanzstück «Apocalypse Now» nehmend, erzeugt der vor allem den Schmerz der Mutter erforschende Film über seine betörenden Dschungelbilder eine verführerisch-surreale Stimmung. Mit jedem Schritt auf ihrer Reise entfernen sich die entfremdeten Eltern ein Stück mehr von der Realität und tauchen spätestens am Ende ins Herz der Finsternis ein. Wer sich für atmosphärische, audiovisuell ambitionierte, langsame Abstiege in die Hölle begeistern kann, sollte «Vinyan» unbedingt sichten!
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5. «Berberian Sound Studio» (2012)
Verstörender Einblick in Filmproduktion
Über Regisseure und Schauspieler spricht man bei Filmen ausgiebig und häufig. Weniger im Rampenlicht stehen hingegen die vielen fleissigen Menschen im Hintergrund, obwohl auch sie ihren Teil zum Endprodukt beitragen. In «Berberian Sound Studio» nimmt Peter Strickland einen dieser unter dem Radar fliegenden Handwerker genauer in den Blick und verneigt sich vor dessen Job.
Ein britischer Toningenieur (Toby Jones), der bislang für Naturdokumentationen im Einsatz war, reist in den 1970er-Jahren nach Italien, um dort Geräuscheffekte für einen Giallo-Streifen zu erzeugen – etwa durch das Traktieren von Obst. Die Auseinandersetzung mit dem blutig-brutalen Werk, das ruppige Gebaren seiner Auftraggeber und die Einsamkeit in einer fremden Umgebung setzen dem stillen Mann heftig zu. Realität und Fiktion kann er schon bald nicht mehr richtig auseinanderhalten.
«Berberian Sound Studio» funktioniert nicht über den Plot, sondern über die Verwirrung des Protagonisten, die Strickland mit Tönen, Farben, Halluzinationen greifbar macht. Clever ist auch die Idee, den von der Hauptfigur bearbeiteten Schocker kein einziges Mal zu zeigen, ihn nur akustisch zu umreissen. Als Hommage an das Giallo-Kino, eine spezifisch italienische Thriller-Ausprägung, funktioniert das betont rätselhafte Psychodrama gleichfalls bestens.
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6. «Enemy» (2013)
Doppelter Jake Gyllenhaal
Basierend auf einem Roman des Literaturnobelpreisträgers José Saramago erzählt Denis Villeneuve in «Enemy» von einem Dozenten (Jake Gyllenhaal), den seine freudlose Existenz zu erdrücken droht. Als er in einem Film einen Schauspieler (ebenfalls Gyllenhaal) entdeckt, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist, macht er diesen ausfindig.
Der über das Ende hinaus Fragen aufwerfende Mystery-Thriller nutzt das beliebte Doppelgängermotiv für eine psychologisch reichhaltige Geschichte um Nähe, Sex, Männlichkeit und die Angst vor der Auflösung der eigenen Identität. Dass die Ereignisse stark subjektiv gefärbt sind, zeigt schon die auffällige, beklemmend monotone Bildsprache. Ständig liegt ein gelber Schleier über dem Film. Und immer wieder sind die Figuren vor brutalistischen Bauten zu sehen, die das Gefühl der Verlorenheit, der Ausweglosigkeit verstärken. Die Herausforderung zweier Rollen meistert Gyllenhaal souverän.
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7. «The Father» (2020)
Anthony Hopkins brilliert als Demenzpatient
Demenzerkrankungen haben schon in einigen Filmen im Mittelpunkt gestanden. Selten wurde die Wahrnehmung eines davon betroffenen Menschen jedoch so sensibel und eindrücklich illustriert wie in Florian Zellers Bühnenadaption «The Father». Anthony Hopkins gibt hier den titelgebenden Vater, dessen Erinnerung immer stärker nachlässt, der sich aber in seinem Alltag nicht durch eine Pflegekraft helfen lassen will.
Da das Drama fast aussschliesslich aus der Perspektive des alten Mannes erzählt ist, können wir dem Gezeigten nie ganz trauen. Mehr als einmal finden wir uns nach dem Verlassen eines Zimmers urplötzlich an einem anderen Schauplatz wieder. Im Szenenbild ändern sich wiederholt kleine Details. Und auch Personen treten unverhofft in neuer Gestalt in Erscheinung. Wie es sich anfühlt, wenn alle Gewissheiten wegbrechen, wenn der Bezug zur Umgebung stetig nachlässt, veranschaulicht Zeller mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Entscheidend für die schmerzhaft-berührende Qualität des Films ist freilich aber auch die wunderbar nuancierte Hopkins-Performance, für die der gebürtige Waliser völlig zu Recht seine zweite Oscar-Statue entgegennehmen durfte.
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8. «Cortex» (2020)
Moritz Bleibtreu auf den Spuren David Lynchs
Um die Macht des Unbewussten geht es im Regie- und Drehbuchdebüt des Schauspielers Moritz Bleibtreu, der gleich auch noch den Hauptpart übernommen hat. Zu sehen ist er als ein durch unruhige Nächte und aufwühlende Träume ausgelaugter Wachmann, der eine unheimliche Verbindung zu einem Kleinkriminellen (Jannis Niewöhner) zu erkennen glaubt.
Der Film liefert nicht auf alle Fragen konkrete Antworten und ordnet seine fragmentarische Geschichte klar dem Atmosphärischen unter. Obwohl einige Einflüsse, etwa die Arbeiten eines David Lynch und Christopher Nolans Traumblockbuster «Inception» (2010), deutlich aufblitzen, legt Bleibtreu ein eigenständiges Werk vor, das mit seinen blaustichigen Bildern die nebelige Wahrnehmung des Protagonisten eindringlich vermittelt. Verzerrte Töne und eine gezielt melancholische Musikauswahl untermauern das somnambule Gefühl dieses sich langsam entfaltenden Psychothrillers.
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