Artikel24. September 2024 Cineman Redaktion
Filmwissen: Eine Karriere, die dem Korsett trotzt: Nahaufnahme Kate Winslet
Auch wenn sie in erster Linie für ihre Rolle als Rose in «Titanic» bekannt ist, hat Kate Winslet im Laufe ihrer über 30-jährigen Karriere in oft unorthodoxen Rollen bewiesen, dass sie mehr zu bieten hat als es die «Jungfrau in Nöten»-Rolle zunächst ahnen liess. Anlässlich des Golden Icon Award, der ihr am Zurich Film Festival verliehen wird, werfen wir einen Blick auf Kate Winslets Karriere.
Schauspielerin der Superlative
Wer glaubt, Meryl Streep hielte alle Rekorde, wenn es um Gütesiegel in Sachen Schauspielerei geht, irrt sich. Im zarten Alter von 31 Jahren überholte Kate Winslet die Rekordhalterin Bette Davis und wurde die jüngste Schauspielerin, die fünf Oscar-Nominierungen aufweisen konnte. Eine Höchstleistung, die für die Tochter einer Kellnerin und einem am Hungertuch nagenden Schauspieler alles andere als vorprogrammiert war.
«Als ich von diesem Rekord erfuhr, bin ich ganz alleine in meiner Wohnung rumgesprungen und habe ‹Fuck yeah!› geschrien», erinnert sich Winslet in einem Interview mit dem Vogue Magazin. «Jemandem wie mir passiert so etwas eigentlich nicht. Ich bin nicht das Kind mit dem Stammbaum. Ich bin nicht klassisch ausgebildet. Ich komme nicht aus einem noblen Elternhaus.»
Bescheidene Kindheit
Kate Winslets Grosseltern leiteten zwar ein Theater in der Kleinstadt Reading in England, aber ihr Vater hatte Schwierigkeiten, als Schauspieler angeheuert zu werden. Er musste oft handwerkliche Arbeit annehmen und ihre Mutter schlug sich als Nanny und Serviererin durch, um Kate und ihre Geschwister finanziell zu unterstützen. Sie spielte Theater in der Schule und nahm an einigen Produktionen der Starmaker Theatertruppe in Reading teil.
Nachdem die 16-Jährige Gastrollen in britischen TV-Serien wie «Get Back» und dem Krankenhaus-Drama «Casualty» landete, wurde sie 1994 zu einem Vorsprechen für Peter Jacksons «Heavenly Creatures» eingeladen. Der Film basiert auf dem Mord an einer neuseeländischen Mutter, begangen durch ihre Tochter (Melanie Lynskey) und ihre beste Freundin (Winslet). Die Kritiker:innen überhäuften sie mit Lob. Die «New York Daily News» schwärmte über Winslets «verrückte Ausgelassenheit» in der Rolle und die englische Zeitung «The Guardian» lobte ihre Darstellung, die nichts zu wünschen übrig liesse.
Mit Sinn und Sinnlichkeit
Während sie 1995 für «Heavenly Creatures» in Los Angeles Pressearbeit leistete, sprach die inzwischen 18-jährige Winslet für die Nebenrolle der Lucy Steele in der Jane Austin-Adaption von «Sinn und Sinnlichkeit» vor. Regisseur Ang Lee gestand kürzlich in einem Interview mit Variety, dass Kate Winslet etwas geschwindelt hätte, um die Rolle der liebeskranken Schwester Marianne Dashwood zu bekommen.
Ihr Agent soll ihr geraten haben, fürs Vorsprechen die grössere Rolle vorzubereiten. «Als sie den Raum betrat, war es klar», erinnert sich Lee. «Auf Chinesisch nennen wir es ‹Chi›, sie hatte einen gewissen Vibe. Sie war Marianne, lebhaft und erfrischend, mit der Energie einer aufgehenden Blume, die explodiert.» Diese Rolle brachte ihr die erste Nominierung für einen Oscar als beste Nebendarstellerin ein.
Auf Historienfilme programmiert
Als kaum 20-Jährige erfuhr Kate Winslet, dass Hollywood seine Stars gerne in Schubladen steckt. Auf «Sinn und Sinnlichkeit» folgten zahlreiche Angebote für Historienfilme, wie 1996 das Drama «Herzen in Aufruhr» von Michael Winterbottom, in dem sie an der Seite von Christopher Eccleston ein ungleiches Paar spielte, das gegen die Konventionen des viktorianischen Englands verstösst.
Im selben Jahr wurde sie auch als die tragische Figur der Ophelia in Kenneth Branaghs über vier Stunden langer Verfilmung von Shakespeares «Hamlet» besetzt. Anspruchsvolle Rollen an der Seite von bedeutenden Schauspieler:innen, die ihr ganz schön zu schaffen machten, wie sie damals der «Irish Times» erzählte. Sie habe sich ständig wie die Neue auf dem Schulhof gefühlt.
«Titanic» sticht in See
Im selben Jahr begann Regisseur James Cameron mit dem Casting seines gross-budgetierten Historienfilms «Titanic». Die Suche nach seiner Hauptdarstellerin für die Rolle der Rose DeWitt Bukater, eine der wenigen fiktiven Figuren des Films, führte ihn zu populären Schauspielerinnen der 90er-Jahre wie Claire Danes oder Gwyneth Paltrow. Als seine Casting-Direktorin Leonardo DiCaprio und Kate Winslet für die Hauptrollen vorschlug, sei Cameron zunächst nicht überzeugt gewesen.
Aber Winslet gab nicht auf und soll ihm eine einzelne Rose geschickt haben, mit der Nachricht: «Von deiner Rose». «Titanic» wurde damals nicht nur zum teuersten Film aller Zeiten, er war 12 Jahre lang auch der lukrativste, bis sich Cameron mit «Avatar - Aufbruch nach Pandora» und «Avatar: The Way of Water», in dem Winslet nicht ganz zufällig die schwangere Freitaucherin Ronal spielt, selbst übertraf.
«Titanic» etablierte Kate Winslet weltweit als Star. Der Film gewann 11 Oscars, einschliesslich dem als Bester Film und die inzwischen 22-jährige steckte eine Nominierung als Beste Schauspielerin ein. Der Weg nach Hollywood schien klar zu sein, aber sie hatte andere Pläne.
Dem Fluch des Kassenschlagers entkommen
Nach dem riesigen Erfolg von «Titanic» mied die Schauspielerin jegliche Art von Kassenschlager. «Es war enorm schwierig, meinen Weg wiederzufinden», gestand sie im Gespräch mit dem Hollywood Reporter Magazin. Ihr wurden all diese gigantischen Filme angeboten, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie mit der Aufmerksamkeit umgehen sollte. «Mir wurde ständig gesagt, wie ich zu sein habe. Ich sollte das eine oder andere sein, meistens sollte ich dünner sein. Ich fühlte mich nicht mehr wie ich selbst.» Zum Glück war die erst 22-jährige klug genug, zu wissen, dass sie noch viel zu lernen hatte.
Im selben Jahr wie «Titanic» kam der Independent Film «Marrakesch» in die Kinos. Die Geschichte einer jungen Hippie-Mutter, die mit ihren zwei Töchtern in Marrakesch die spirituelle und sexuelle Erleuchtung sucht, zeigte eine erotischere Seite der Schauspielerin, die sie in Jane Campions «Holy Smoke» (1999) mit ihrem Co-Star Harvey Keitel noch stärker auslebte. Das Drehbuch verlangte von ihr, eine unsympathische, manipulative Frau zu spielen, was Winslet als Herausforderung bezeichnete, ihr aber den Respekt der Kritiker:innen einbrachte. Ihre sexuelle Revolution auf der Leinwand schloss Winslet 2000 mit «Macht der Besessenheit», der Biografie des Marquis de Sade, ab. Das Los Angeles Magazin schrieb: «Winslet ist eine der mutigsten zeitgenössischen Schauspielerinnen, die ständig die Grenzen der sexuellen Befreiung testet.»
Der sexuellen folgte eine intellektuelle Befreiung mit Filmen wie Michael Apteds «Enigma» (2001). Sie spielte eine Mathematikerin, eine Rolle, die im Vergleich zur Figur der Romanvorlage stark ausgeweitet wurde, um eine Schauspielerin von Winslets Kaliber zu rechtfertigen. Im selben Jahr war sie an Judy Denchs Seite in «Iris» als Schriftstellerin Iris Murdoch zu sehen, was ihr die dritte Oscar-Nominierung einbrachte. Und mit ihrer atypischen Besetzung als unkonventionelle und leidenschaftliche Lebenskünstlerin Clementine, die alle Erinnerung an ihren Ex-Freund (Jim Carrey) aus ihrem Gedächtnis ausradieren will, etablierte sie sich in «Vergiss mein nicht» vollends als eine der vielseitigsten jungen Schauspielerinnen in Hollywood und heimste 2004 ihre vierte Oscar-Nominierung ein.
Die fetten Jahre
In den Jahren danach konnte sich Kate Winslet ihre Rollen aussuchen. Privat war sie inzwischen Mutter zweier Kinder geworden und ihre Filmwahl könnte auch von den Stundenplänen ihrer Familie oder der Höhe der Gage diktiert worden sein. In Marc Forsters «Wenn Träume fliegen lernen» akzeptierte sie die Rolle der Mutter der Llewelyn Davies Brüder, die J.M. Barrie (Johnny Depp) als Vorlage für seinen Erfolgsroman «Peter Pan» dienten. Ein Film, für den sie angeblich 6 Millionen Pfund Gage bekommen haben soll und der zu ihrem kommerziell Erfolgreichsten seit «Titanic» wurde.
Im selben Jahr wurde Winslet für «Little Children» zum fünften Mal für einen Oscar nominiert, was die 31-jährige zur jüngsten Schauspielerin machte, der eine derartige Ehre zuteil wurde. 2006 hatte sie auch in einem für sie neuen Genre, der romantischen Komödie, kommerziellen Erfolg. In Nancy Meyers Klassiker «The Holiday - Liebe braucht keine Ferien» spielt sie eine Engländerin, die mit einer Amerikanerin (Cameron Diaz) während der Weihnachtsfeiertage ihr Zuhause tauscht. Der Film hat seither weltweit über 205 Millionen Franken eingespielt.
Und nach all den Jahren der Nominationen wurde 2008 Kate Winslets Traum vom Oscar schliesslich wahr. Für Stephan Daldrys «Der Vorleser» wurde ihr der Preis als Beste Schauspielerin verliehen. Der Film, nach dem Roman von Bernhard Schlink, erzählt die Geschichte einer ehemaligen Wärterin eines Nazi-Konzentrationslagers, die eine Beziehung mit einem Teenager eingeht. Winslet sprach in einem Interview mit der «Huffington Post» darüber, wie schwer es ihr fiel, den Zugang zu dieser Figur zu finden und sie ehrlich zu spielen, ohne ihre Taten zu verharmlosen. «Schliesslich wurde mir klar, dass ich ihr nicht vergeben und mit ihr nicht sympathisieren muss. Wir müssen nur verstehen, weshalb dieser Person diese Dinge zugestossen sind.»
Kein Ruhm ohne Reue
Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts brachte Kate Winslet eine bunte Mischung von Filmen. Mal abgesehen von wenigen Höhepunkten wie der «Steve Jobs»-Biografie, die ihr unter der Regie von Danny Boyle ihre sechste Oscar-Nominierung einbrachte, war diese Zeit von Flops wie Jason Reitmans «Labor Day» oder dem lustlosen «The Hunger Games»-Abklatsch «Divergent - Die Bestimmung» und dessen Fortsetzungen mit Rollen gepflastert, die nur wenig Fleisch am Knochen hatten.
Am Ende der Dekade wurde Hollywood durch die #metoo-Bewegung gehörig aufgerüttelt, was auch an Kate Winslet nicht spurlos vorbeiging. Die Schauspielerin arbeitete 2011 mit Roman Polanski, einem verurteilten Sexualstraftäter, am Film «Der Gott des Gemetzels» und drehte 2017 mit Woody Allen, der von seiner Tochter Dylan des sexuellen Missbrauchs angeklagt wird und dessen Filme des Öfteren Beziehungen zwischen älteren Männern und jungen Frauen, zuweilen sogar minderjährigen Mädchen («Manhattan») zeigen, den Film «Wonder Wheel». «Was zum Teufel habe ich mir dabei gedacht, mit Woody Allen und Roman Polanski zu arbeiten?», hinterfragte sie 2020 einige ihrer Karriereentscheidungen in einem Interview mit Variety. «Es ist unglaublich und eine Schande, wie lange die Branche vor diesen Männern Hochachtung hatte. Aber ich muss selbst dafür die Verantwortung übernehmen, mit ihnen gearbeitet zu haben und mich mit der Reue darüber herumschlagen.»
Kate Winslets kommendes Projekt könnte eine kleine Wiedergutmachung werden: In «Lee - Die Fotografin» spielt sie Lee Miller, die sich vom Model zur Fotografin emanzipierte und die Geschichte ihrer Zeit mit ihrem persönlichen Blick auf die Welt festhielt. «Lee - Die Fotografin» ist ab dem 17. Oktober 2024 in den Deutschschweizer Kinos zu sehen.
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