Artikel18. Januar 2024 Cineman Redaktion
Filmwissen: Zwischen Love Interest und Emanzipation: Nahaufnahme Emma Stone
Wer erinnert sich nicht? Zusammen mit ihrem Leinwandpartner Ryan Gosling hebt Emma Stone im Griffith-Observatorium über den Hügeln von Los Angeles plötzlich ab und schwebt tänzelnd durch den Sternenhimmel. Mit dieser Szene bestieg die US-Schauspielerin 2016 den Hollywood-Olymp. Zum Start von «Poor Things» schauen wir auf ihre spannende, ungewöhnlich verlaufende Karriere.
Ein neuer Vorname muss her!
Was haben Emma Stone und Michael Keaton gemeinsam? Beide sind in der schwarzen Komödie «Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)» (2014) zu sehen. Aber nicht nur das! Sowohl Stone als auch Keaton müssen sich zu Beginn ihrer Karrieren ein bisschen neu erfinden. Er heisst eigentlich Michael Douglas, nimmt jedoch den Künstlernamen Michael Keaton an, um nicht mit Kirk Douglas‘ bekanntem Sohn verwechselt zu werden. Stone wiederum kommt als Emily auf die Welt und wählt beim Eintritt in die US-Schauspielergewerkschaft den Vornamen Emma, weil eine Emily Stone bereits existiert.
Diese amüsante Anekdote ist in gewisser Weise symptomatisch für einen Werdegang mit einem durchaus eigenwilligen Verlauf. Das Interesse für die Bühne entdeckt die 1988 geborene Emma Stone schon als Kleinkind. Ihr Debüt gibt sie allerdings erst im Alter von elf Jahren. Das Theater entwickelt sich zu einem Steckenpferd und hilft ihr, mit Ängsten und Panikattacken umzugehen. Der Wunsch, professionelle Schauspielerin zu werden, ist schliesslich so gross, dass Stone die Highschool abbricht und Anfang 2004 mit ihrer Mutter nach Los Angeles zieht. Der Start für einen Vorsprechmarathon, der zunächst keine Früchte tragen will. Nebenbei belegt sie schulische Online-Kurse und arbeitet in einem Laden für Hundeleckerli. Hollywood-Glamour? Fehlanzeige!
Ihren ersten Fernsehauftrag erhält Emma Stone im unverkauften Sitcom-Piloten «The New Partridge Family» (2004). Es folgen mehrere Gastauftritte in verschiedenen TV-Serien, darunter «Malcolm mittendrin» und «Lucky Louie». Die bereits im Theater ausgebildete Leidenschaft für das Komödiantische kommt auch in ihrem Kinodebüt zum Vorschein. Der Coming-of-Age-Spass «Superbad» (2007) zeigt Stone als Schwarm eines der beiden männlichen Protagonisten und gibt ein wenig die Richtung der nächsten Jahre vor. Oft taucht sie als Love Interest in humorigen Filmen auf und hat selten die Möglichkeit, ihren Charakteren Profil zu verleihen.
Raus aus der Schublade
2010 geht es dann aber einen Schritt weiter. In «Einfach zu haben» spielt Stone ihre erste Hauptrolle als eher unbeachtete Schülerin, die sich mit einer Notlüge in ein besseres Licht stellen will. Das Ganze hat allerdings ungeahnte Konsequenzen. Regisseur Will Gluck gelingt eine pointiert-schwungvolle Teenagerkomödie, die ihre Figuren und deren Ängste ernst nimmt. Emma Stone, bislang meistens an der Seitenlinie postiert, darf nun auf breiter Front beweisen, was in ihr steckt, und liefert eine mitreissend-glaubwürdige Performance ab. Der Lohn: ihre erste Golden-Globe-Nominierung.
Durch «Einfach zu haben» steigt nicht nur ihr Bekanntheitsgrad. Auch die Lust, sich weiter auszuprobieren, die Schublade zu verlassen, scheint grösser zu werden. Mit Tate Taylors Romanverfilmung «The Help» (2011), einem Drama über den Rassismus im Süden der USA in den 1960er-Jahren, wechselt Stone komplett das Fach. Dieses Mal verkörpert sie eine Schriftstellerin, die schwarzen Hausangestellten eine Stimme geben möchte.
Ihren endgültigen internationalen Durchbruch markiert die Comicadaption «The Amazing Spider-Man» (2012). In ihrer Rolle als Gwen Stacey ist sie, wieder einmal, als Love Interest des Titelhelden zu sehen, spielt sich aber gelegentlich aus dem Schatten von Andrew Garfields Spinnenmann heraus. Lob bekommt Stone auch für ihre Darbietung im Sequel «The Amazing Spider-Man 2» (2014).
Mittelmass und Aufreger
Die Jahre 2013 bis 2015 sind jedoch nicht nur von schönen Erfahrungen geprägt. Der Mafiakrimi «Gangster Squad» (2013) und der Episodenfilm «Movie 43» (2013) werden von der Kritik grösstenteils verrissen. Das Steinzeitabenteuer «Die Croods» (2014), in dem Emma Stone einen Sprechpart übernimmt, bietet solide, aber keineswegs originelle Animationsunterhaltung. Und die Auftritte in den eher belanglosen Woody Allen-Werken «Magic in the Moonlight» (2014) und «Irrational Man» (2015), für die sie im Zuge der #MeToo-Bewegung gescholten wird, hinterlassen wenig Eindruck. Nicht viel besser sieht es bei der Liebeskomödie «Aloha – Die Chance auf Glück» (2015) aus. Stimmen werden laut, die das Whitewashing von Stones teilweise asiatisch-hawaiianisch geprägter Rolle monieren. Die Schauspielerin selbst gesteht später, dass sie ihr Mitwirken bereue.
Grund zur Freude bietet hingegen die ohne (sichtbare) Schnitte inszenierte Showbiz-Satire «Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)». Für ihre kraftvolle Performance als aufmüpfige Tochter eines alternden Ex-Superheldendarstellers erhält Emma Stone ihre erste Oscar-Nominierung. 2017 gewinnt sie dann die begehrte Trophäe – «La La Land» sei Dank. In der Rolle einer angehenden, zwischen Liebe und Beruf hin- und hergerissenen jungen Schauspielerin zeichnet sie ein ebenso berührendes wie vielschichtiges Porträt und schöpft aus den mitunter desillusionierenden Erfahrungen ihrer eigenen frühen Karriere.
Nach «La La Land» steht Stone auf dem Gipfel der Traumfabrik, wird von der Zeitschrift «Time» als eine der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten geadelt und könnte von nun an eingängige Hochglanzproduktionen in Serie drehen. Ihr Weg gabelt sich aber auf interessante Weise. Für massenkompatible Arbeiten wie die Horrorkomödie «Zombieland: Doppelt hält besser» (2019) und den Animationsstreifen «Die Croods - Alles auf Anfang» (2020), beides Fortsetzungen, ist sie sich weiterhin nicht zu schade. Hinzu gesellen sich allerdings immer häufiger gesellschaftlich relevante Filme und/oder Werke, die mit klassischen Sehgewohnheiten brechen.
Erste Zusammenarbeit mit Yorgos Lanthimos
«Battle of the Sexes» (2017) ist zwar ein Unterhaltungsstück. Akribisch nimmt das Biopic über ein Tennismatch zwischen der Profispielerin Billie Jean King, verkörpert von Stone, und dem exzentrischen Wimbledon-Gewinner Bobbie Riggs (Steve Carell) allerdings den Sexismus und die Ungleichstellung von Frau und Mann in den 1970er-Jahren in den Blick. Soziale Mechanismen und öffentlicher Druck werden illustriert. Und spätestens hier beginnt die frischgebackene Oscar-Preisträgerin mit der rauchigen Stimme, sich verstärkt an um Selbstbestimmung kämpfende Figuren heranzuwagen.
Grosses Schauspiel- und eigenwilliges Autorenkino verbinden sich in der Historienfarce «The Favourite» (2018) von Yorgos Lanthimos. In opulenten Bildern inszeniert der für schaurig-absurde Filme bekannte Grieche den Machtkampf der von Stone gespielten Hofdame Abigail Hill und ihrer Cousine Sarah Churchill (Rachel Weisz) um die Gunst der kränklichen Königin Anne (Olivia Colman). Eine Ménage-à-trois mit herrlichen Gemeinheiten.
Wohl nicht von ungefähr fällt in diese Zeit die Gründung einer eigenen Produktionsfirma. Emma Stone und ihr Ehemann Dave McCary heben 2020 das Unternehmen Fruit Tree aus der Taufe und bringen mit «When You Finish Saving the World» (2022), dem Regiedebüt von Jesse Eisenberg, und «Problemista» (2023) erste Projekte auf den Weg.
Freiheit für Bella
Die Disney-Verfilmung «Cruella» (2021), die die Origin-Story der «101 Dalmatiner»-Antagonistin Cruella de Vil erzählt, ist sicherlich nicht frei von Schwächen. Als junge, gegen ihre skrupellose Chefin aufbegehrende Modedesignerin hat Emma Stone dennoch eine schillernd-diabolische Ausstrahlung. Erneut verkörpert sie eine Frau, die Schranken einreissen, sich von Zwängen und Ausbeutung freimachen will.
Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung ist das Fantasy-Märchen «Poor Things» (2023) von Yorgos Lanthimos. Die Handlung könnte dabei bizarrer nicht sein: Stone gibt dieses Mal eine Selbstmörderin, die von einem verrückten Wissenschaftler (Willem Dafoe) das Gehirn ihres ungeborenen Babys eingepflanzt bekommt und zurück ins Leben geholt wird. Als Studienobjekt und Projektionsfläche für sexuelle Fantasien benutzt, durchbricht die anfangs wie ein Kleinkind handelnde und denkende Protagonistin ihren Käfig. Aus Stones grossen Augen blickt diese wissbegierige Bella auf die Welt, die ihr zunächst so fremd ist, und emanzipiert sich Stück für Stück von den Männern um sie herum mit ihren verqueren Besitzansprüchen. Leicht hätte diese Rolle ins Karikaturhafte kippen können. Stattdessen steckt uns die US-Schauspielerin aber mit Bellas Wissbegierde und ihrem Drang, sich zu entfalten, an und wirft sich unerschrocken in die absurd-komischen Sexszenen des Films. Wenn da nicht mal der zweite Oscar wartet…
Dass Emma Stones Karriere nach «Poor Things» ins völlig Belanglose abdriftet, steht wohl nicht zu befürchten. Schon die düster-schwarzhumorige Serie «The Curse» (2023), die einen Fluch mit einer vor den Kameras einer Reality-Show einsetzenden Ehekrise kombiniert, untermauert ihre Lust an schrägen, unangepassten Stoffen. Ausserdem ist die nächste Lanthimos-Zusammenarbeit schon abgedreht. Was soll da noch schiefgehen?
«Poor Things» ist seit dem 18. Januar im Kino zu sehen.
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