Interview19. August 2020

Gabriel Baur zu Irene Staub: «Ich wollte sie wieder zum Leben erwecken»

Gabriel Baur zu Irene Staub: «Ich wollte sie wieder zum Leben erwecken»
© Aurélia Marine - 2020

Für das Streaming und die DVD-Veröffentlichung ihres hervorragenden Dokumentarfilms über die Zürcher Ikone Irene Staub tauschen wir uns per E-Mail mit Gabriel Baur aus. Es war die Gelegenheit für ein langes Gespräch über Zürich, sein Treffen mit Ursula Rodel, natürlich Lady Shiva alias Irene Staub, und einen früheren Erfolg: Der Dokumentarfilm «Venus Boyzs».

1 - «Glow» ist vor allem die Geschichte einer rebellischen Ikone, eines Cover-Girls, einer freien Frau, die ihrer Zeit voraus und auf der Suche nach ihrer Identität ist. Sie ist Nonkonformistin, Künstlerin, Musikerin und Schauspielerin, die uns vielleicht an Nico, Patti Smith, oder Catherine Deneuve erinnert. Woher kommt der Drang, Irene Staub in den Fokus zu rücken, und wie inspiriert sie Sie noch heute?

Gabriel Baur: Es begann mit der Euphorie, als wir zum ersten Mal das Archivmaterial visionierten. Die kreative Energie und Lebensfreude von Irene alias Lady Shiva und der Musikband steckten mich sofort an. Irene, ich nenne sie hier Irena, weil sie diese Namensvariante mochte, hatte eine raue ungeschliffene Stimme und den grossen Traum, Sängerin zu werden. Je mehr ich dann von Irena durch meine Recherchen für den Film erfuhr, desto mehr zog sie mich in den Bann - in Kombination mit der einmalig pulsierenden Epoche der sechziger bis Ende achtziger Jahre. Irena lebte, wovon andere nur sprachen.

Sie liebte gleichermassen Männer und Frauen, unabhängig von binären Geschlechterkategorien und Status. Irena war Vieles, sie faszinierte als Model, Schauspielerin, Sexarbeiterin und Mensch. Sie war nicht nur charismatisch attraktiv, hinter ihrer «Bombshell»-Fassade lag eine reiche, komplexe Persönlichkeit. Ihre Stärke und gleichzeitig ihre große Fragilität berührten mich zunehmend.

Ist das Freiheitsversprechen nicht eine Illusion?– Gabriel Baur

2 - Wie haben Sie sich vorgestellt, diese Geschichte zu erzählen?

Antrieb für den Kinofilm «Glow» gaben für mich schliesslich vier zusätzliche Dinge. Erstens realisierte ich, wie sehr Irena nebst Bewunderung bis hin zur Ikonisierung auch einer latent bis offen ausgesprochenen Marginalisierung ihrer Person ausgesetzt war. Zweitens können mich Ungerechtigkeit oder Respektlosigkeit zornig machen und auf Hochtouren bringen. Mir ging es darum, solche Vorurteile subversiv ausser Kraft zu setzen, was zu einer riskanten Dramaturgie in «Glow» führte.

Neben aller Bewunderung inspirierten sie mich zu Fragen, die in «Glow» implizit aufgenommen sind. Wohin führt uns unser Freiheitsdrang letztlich? Ist die Kehrseite der multiplen Freiheitsoptionen nicht die zunehmende Abhängigkeit von ihr? Ist das Freiheitsversprechen nicht eine Illusion? Was ist der Preis, den wir dafür bezahlen und bezahlen wollen? Ganz persönlich beschäftigte mich während der Konzipierung des Films immer mehr: Wieso ergriff Irena die grossen Chancen nicht mehr? Was macht letztlich einen Menschen wirklich erfolgreich? Was mich zur dritten Motivation und Inspiration führt. In «Glow» wird eine bewegende Geschichte von Freundschaft und Liebe erzählt, insbesondere zwischen zwei sehr unterschiedlichen charakterstarken Frauen. Ein letzter starker Beweggrund war - das möchte ich hier unbedingt noch anfügen – dass Irena viel zu jung gestorben ist. Ich wollte sie wieder zum Leben erwecken.

Ursula Rodel und Irene Staub
Ursula Rodel und Irene Staub © Roswitha Hecke

3 - Im Film ist die Modedesignerin Ursula Rodel die zentrale Erzählerin. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Als ich das Filmprojekt begann, brachen plötzlich die heftigen Energien dieser Zeit wieder auf, und ich musste mein ursprüngliches Drehbuch grundlegend ändern. Das war hart, erwies sich aber als ein Glücksfall, denn bei der Ausweitung der Recherche war mir klargeworden, dass die Designerin Ursula Rodel ein Schlüssel zur Aufstiegsgeschichte von Irene Staub war. «Glow» ist ein wenig wie «Pretty Woman», wobei in «Glow» eben nicht ein reicher Unternehmer, sondern eine international bekannte Modedesignerin eine junge, schöne Frau auf der Strasse entdeckt, sich in diese verliebt, sie fördert und ihr mit ihrem Knowhow und ihrem Freundeskreis von bekannten Filmregisseur.innen bis zu Catherine Deneuve eine neue Welt öffnete.

Dazu kommt, dass Ursula Rodel einfach ein ausserordentlich kreativer Mensch ist, eine große Modepionierin und eine mutige Persönlichkeit, die schon damals offen gleichgeschlechtliche Beziehungen lebte. Sie sagte zuerst konsequent «Nein». Aber wenn ich mal etwas im Fokus habe und es unbedingt will, gebe ich nicht so schnell auf. Nach eineinhalb Jahren sagte Ursula Rodel plötzlich «Ja». Ich vergesse diesen Tag nicht mehr. Ich habe echt noch nie solange auf jemanden gewartet (lacht).

«Glow» ist ein wenig wie «Pretty Woman»...– Gabriel Baur

4 - Ihr Film strahlt eine Melancholie aus. Vielleicht die Melancholie einer gewissen Freiheit, eines Zürich, das ein bisschen mehr Punk und Rock’n’Roll war, vielleicht auch die Melancholie einer vergangenen Ära der Roten Fabrik. Was strahlt die Stadt für Sie heute aus?

Das ist spannend, dass Sie die Melancholie mit Zürich verbinden. Vielleicht, weil ich Zürich in schönen Bildern zeige? Ich wollte Zürich nicht rau und hässlich zeigen, keinesfalls auf das simple Klischee anspielen wie: Milieu oder Fabrikszene gleich harte raue Realität gleich beispielsweise körnig realistische Bilder. In Zürich spielen sich ja die härtesten Geschichten ab und es ist der Kontrast, der mich fasziniert. Es gibt wenig Städte, die so idyllisch daherkommen und es schaffen, gesellschaftliche und menschliche Abgründe auf den ersten Blick so gekonnt zu kaschieren. Die vorhandene Melancholie hat für mich dabei weniger mit der Stadt als mit den Protagonist.innen zu tun, mit den Geschichten von ihnen und Irenas Leben. Aber die Geschichte ist nicht nur hart, sie ist vital, voller Leben, voller Emotionen und auch mit vielen sehr schönen und warmen Momenten.

Irene Staub
Irene Staub © Hans Gissinger & Ursula Rodel

5 - Sie beziehen sich auf den Film “Madame X”. Wo wird Bezug auf den Film genommen? Welchen Einfluss hat das experimentelle Kino von Ulrike Ottinger Ihrer Meinung nach heute noch?

Ich beziehe mich auf den Film, weil Irena mitspielte und die Mitschöpferin von «Madame X», Tabea Blumenschein, in «Glow» ebenfalls prominent vorkommt und eine Freundin von Irena war, wie Ulrike Ottinger auch. Die frühen Filme von Ottinger - «Madame X», «Bildnis einer Trinkerin» oder «Freak Orlando» – entstanden in Kooperation mit Blumenschein. Mit diesen Filmen wurden die beiden bekannt, «Madame X» löste, soweit ich hörte, sogar einen Skandal bis in feministische Kreise aus, der Film provozierte. Ich persönlich finde diese Filme mit sehr spezieller Handschrift inspirierend. Ottinger ist ja eine grossartige Fotografin. Zusammen mit Tabea, die in den früheren Filmen jeweils die Hauptrollen spielte und «co-designte», entwerfen sie ein ungesehenes, einzigartiges Universum an Figuren und Bildern, an Gender «Fluidity» und «Queerness», erzählen von weiblich geprägten Fantasien, Utopien und Dystopien. Das ist immer noch faszinierend.

Was gibt denn jemandem das Recht, Prostitution verbieten zu wollen?...– Gabriel Baur

6 - Irenes Sichtweise der Prostitution scheint in völligem Widerspruch zur aktuellen Politik zu stehen. Was sagen Sie denjenigen, die die Prostitution verbieten möchten?

Was gibt denn jemandem das Recht, Prostitution verbieten zu wollen? Das sollte zuallererst mit den Sexarbeiter.innen, die das freiwillig gewählt haben, diskutiert und verhandelt werden. Ich habe extrem Mühe, wie Frauen in der Prostitution normalerweise behandelt werden, auch wenn sie das aus freiem Willen tun. Und ich habe aus nächster Nähe miterlebt, welche zerstörerischen Spuren das hinterlässt. Aber ein Verbot? Klar ist: Es sollte endlich mehr gegen Frauenhandel gemacht werden. Dass Menschen, meist sehr junge Frauen, mit oft schlimmer Gewalt zur Prostitution gezwungen werden, ist unerträglich.

Liebe und Sexualität sollten ausserhalb dieser Geld- und Warensphäre stattfinden. Aber das ist in unserer von Geld dominierten Ökonomie gar nicht möglich. Alles ist sozusagen käuflich geworden, Herzen, (Leih-) Mütter, Kinder, Seelen, was auch immer. Wobei das eine akzeptiert, das andere sanktioniert wird, und darin liegt eine gewisse gesellschaftliche Verlogenheit. Wieso werden beispielsweise in unserer Gesellschaft Männer, die beruflich ihre sogenannte Seele verkaufen und schamlos viel Geld anhäufen gesellschaftlich belohnt und Frauen, die ihren Körper verkaufen und damit Geld machen, zusätzlich noch auf vielerlei Weise abgestraft?

Wir brauchen tabulosere Sichtweisen, neue Strukturen, neue Wertesysteme...– Gabriel Baur

7 - Wie steht es mit Irena?

Irena war dieser Sachverhalt bewusst, allein schon wegen ihrem Umfeld. Sie ist manchmal geradezu provokativ bejahend zu ihrem Beruf gestanden. Doch ihre Sichtweise der Prostitution fällt heute in eine Zeit, in der diese Haltung von vielen als politisch unkorrekt wahrgenommen wird und auf Ablehnung trifft. Ja, Irenas Haltung kann heute sogar noch mehr provozieren als damals. Darum habe ich es genauso stehen lassen und wurde ebenfalls schon abgestraft, bei der Recherche, bei der Produktion, bei der Auswertung. Es gibt auch viele Frauen, die das Thema am liebsten bannen möchten. Ich habe es stehen lassen, um nicht zu beschönigen, nicht auszuweichen - Es braucht mehr Diskussionen darüber, wir brauchen tabulosere Sichtweisen, neue Strukturen, neue Wertesysteme, konkrete Verbesserungen. Das Ganze ist komplex und wird durch Verbote meiner Ansicht nach nicht gelöst.

8 - Wie würden Sie das Wort «Glow» definieren? Eine Form von Licht, Charisma, Ausstrahlung?

«Glow» beinhaltet für mich sehr viel: Strahlen, Ausstrahlung, Charisma, Licht und Schatten, für etwas Glühen, Brennen, Leuchten und vor allem Intensität. Ich bin natürlich auch darauf gekommen, weil Federico Fellini laut Ursula Rodel von Irena sagte: «Wer so glüht, wird nicht alt».

Ursula Rodel
Ursula Rodel © Gabriel Baur

9 - In den 2000er-Jahren haben Sie den Dokumentarfilm «Venus Boyz» gedreht, einen wichtigen Dokumentarfilm über die «Drag King»-Kultur, der beim Festival von Locarno gefeiert wurde und viele Künstler inspiriert hat. Ich denke dabei insbesondere an die Venus Boys, ein Berliner Künstlerkollektiv, das als Hommage den gleichen Namen trägt wie Ihr Dokumentarfilm. Haben Sie erwartet, dass Ihre Arbeit in der LGBTQIA+-Gemeinschaft eine solche Resonanz finden würde?

Ich hatte nicht erwartet, dass «Venus Boyz» so erfolgreich werden würde. Die Produktion des Filmes war ein gigantischer Kampf. Er ist in seinem Bereich ein Klassiker geworden. Die Resonanz in der LGBTQIA+-Gemeinschaft freut mich unglaublich und ich hoffe einfach, dass «Venus Boyz» weiter dazu beitragen kann, uns mit den grossartigen Protagonist.innen im Film zu beflügeln, zu inspirieren und repressive Genderstrukturen aufzulösen. Was mich auch immer wieder berührt, sind direkte Feedbacks von Zuschauer.Innen aus verschiedenen Regionen der Welt, die uns schreiben oder sagen, dass der Film ihr Leben verändert hat. Als ich vom Berliner Künstlerkollektiv hörte, hat mich das natürlich auch sehr gefreut. Es ist wunderbar, dass der Film so weiterlebt. Manchmal scheint es, dass «Venus Boyz» heute fast aktueller ist als in den 2000er-Jahren.

10 - Was wünschen Sie sich, das man aus Ihrem Film mitnimmt?

Die «Glow»-Intensität, ein Leuchten, die Lust zu leben und zu lieben trotz widrigster Umstände. Plus erhellende Gedankenblitze betreffend Erfolg, Narzissmus, Freiheitsoptimierung sowie ihrer Grenzen, Überlebensstrategien, Schmerzlinderung, fluider Liebe, weiblicher Identität, Stärkung von Selbstvertrauen, Wichtigkeit von Freundschaft, Ambivalenz von Liebe. Es gibt im undefinierten Zwielicht einiges zu entdecken, das ausgestreut wurde und vor sich hin funkelt, ausleuchtende Reflexion gesellschaftlicher Zusammenhänge. (Lacht) Aufleuchten durch «Glow».

Trailer

«Glow» is ab sofort auf Myfilm.ch, Filmingo.ch und Artfilm.ch verfügbar.

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