Interview1. Juni 2023

Interview: Christian Petzold über «Roter Himmel»: «Leon ist ein Idiot.»

Interview: Christian Petzold über «Roter Himmel»: «Leon ist ein Idiot.»
© Berlinale 2023

In «Roter Himmel» erzählt der Regisseur Christian Petzold die Geschichte des jungen Schriftstellers Leon, der in einem Ferienhaus an der Ostsee endlich Zeit zum Arbeiten finden will. Doch sein Kumpel Felix, der eigentlich auch arbeiten wollte, lässt sich bald von Nadja und Devid in Urlaubsstimmung versetzen – sehr zum Missfallen von Leon. Während die Spannungen zwischen den Bewohnenden des Hauses zunehmen, kommt ein Waldbrand immer näher. Wir trafen Christian Petzold im Rahmen der Berlinale, wo er den Film vorstellte und damit den grossen Preis der Jury gewann.

1 - Dieser Satz: «Die Arbeit lässt es nicht zu» – können Sie das nachvollziehen? Sie sind Autor, Sie sind Filmemacher, wie sehr tragen Sie Ihre Arbeit mit sich herum und können Sie sie loslassen, wenn Sie nicht arbeiten?

Christian Petzold: Meine Biografie ist nicht weit von der meiner Hauptfigur entfernt. Vor allem, als ich meinen zweiten Film machen wollte. Mein erster Film war ein Erfolg und plötzlich bin ich im Mittelpunkt der Welt, und das Blitzlicht ist auf mich gerichtet, und ich möchte in dieser Position bleiben! Ich habe ein Drehbuch geschrieben, «Cuba Libre», 35mm und es geht um Autos und Mädchen und Belgien – fantastische Bilder! Nach zwei Drehtagen sagte meine Frau zu mir: «Ich habe das Gefühl, dass du einen Regisseur spielst.» Weil alles irgendwie falsch ist. Die Bilder sind falsch, die Mädchen sind falsch, das Auto ist falsch, der Strand ist falsch, Belgien ist falsch. Ich habe jemanden gespielt – wie ein kleiner Tarantino.

2 - Was haben Sie gemacht? Haben Sie den Dreh gestoppt?

Christian Petzold: Zuerst war ich kurz deprimiert. Dann sagte ich mir, dass ich etwas ändern muss. Es war Wochenende und ich ging in mein Hotelzimmer und änderte die Perspektive des gesamten Drehbuchs. Vorher war es die Perspektive eines männlichen Subjekts und ich änderte es in ein Porträt. Das war meine Rettung. Es war eine Erfahrung, die ich mit mir selbst gemacht habe.

Es ist dasselbe, einen Regisseur zu spielen, wie einen Künstler zu spielen. Ich habe über diese Zeit in meinem Leben nachgedacht und darüber, jemanden zu spielen. Wenn ich ins Kino gehe, weiss ich, dass dies ein Film von jemandem ist, der einen Regisseur spielt. Ich weiss das direkt von Anfang an. Oder wenn ich ein Buch lese und da ist jemand, der Schriftsteller werden will. Jeder kennt diese Art von Künstler. Von sich selbst und von anderen.

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3 - Wie lief die Arbeit im Voraus ab?

Christian Petzold: Meine Schauspieler sind wirklich sehr intelligent, intelligent in ihrer Arbeit mit einem Regisseur. Alle Schauspieler wollen im Kollektiv arbeiten. Die Schauspieler, die ich habe, lieben diese kollektive Arbeit. Also machen wir das. Wir sitzen drei Monate vor den Dreharbeiten zusammen und schauen drei volle Tage lang Filme, in diesem Fall haben wir «Some Came Running» von Vincente Minnelli gesehen, zwei oder drei Sommerfilme, einen von Éric Rohmer und «The Myth of the American Sleepover» – das ist ein fantastischer Film.

Während unserer kollektiven Arbeit hatten wir ein Cold Reading vom Anfang des Drehbuchs. Für mich war es nicht so voller Humor oder komödiantischer Spuren, aber die Schauspieler fingen an zu lachen. Und ich bin ihnen gefolgt. Plötzlich wusste ich, dass jeder diesen Kerl, Leon, mögen würde, weil er ein Idiot ist. Er zerstört die Welt, er ist nicht Teil dieser Welt, aber wir lieben ihn. Weil er ein Idiot ist. Wir sehen diese Frau, Nadja, die gerne einen Idioten zerstört. Und daraus ergibt sich der Humor.

4 - Also war es Ihrer Meinung nach keine Komödie?

Christian Petzold: Nein! Nein. Naja, ein bisschen vielleicht. Zum Beispiel die Szene, als Leon meint: «Ich komme nicht mit an den Strand, ich muss arbeiten» und dann spielt er mit einem Tennisball. Das stand nicht im Drehbuch. Es ist eine wunderschöne Szene, und für mich macht sie die Komödie lebendig, sie bringt auch die tragischen Momente.

Das Haus, der Garten, die Pergola, alles - die Schauspieler haben damit gespielt. Es stand nicht im Drehbuch, das Drehbuch ist eher ein Versuchsaufbau, der Aufbau eines Experiments. Aber sie haben den Aufbau bespielt, denn diese Schauspieler sind grossartig. Es gibt nicht so viele Schauspieler auf dieser Welt, die fantastische Schauspieler sind UND sehr nett und nicht narzisstisch. Ich habe das Glück, dass fünf von ihnen in diesem Film sind.

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5 - Paula Beer hat bereits in einigen Ihrer Filme mitgespielt: Warum arbeiten Sie immer wieder mit ihr?

Christian Petzold: Ich habe François Ozon bei seinen deutschen Dialogen für «Frantz» geholfen und er sagte: «Kennst du Paula Beer?» Ich habe sie mir angeschaut und fand sie interessant. Ich habe sie in den Szenen von François Ozon gesehen und sie war grossartig! Sie ist nicht typisch deutsch.

Wir haben in Deutschland das Problem, dass wir die Revolution 1848 verloren haben. Die Franzosen hatten die Revolution, die Italiener hatten die Revolution, die Amerikaner, aber wir hatten sie nicht. Aber wir haben das Theater. In jeder Stadt haben wir wirklich gute Theater. In Deutschland ist das Theater das Parlament der verlorenen Revolution. Wir haben eine Ausbildung von Schauspielern für diese Art von Theater. Es gibt die besten Schauspielschulen in Deutschland, fantastische Schulen. Aber die Schauspieler arbeiten alle für das Theater und nicht für das Kino. Sie kennen den Unterschied nicht.

Paula war nie Mitglied einer Theaterschule, die diese Ausbildung anbietet. Sie war eher eine Tänzerin als eine Schauspielerin. Sie hat mehr Körpergefühl und mehr Anmut. Sie ist sehr intelligent. Damit meine ich, dass man mit ihr reden kann und dass man mit ihr über eine Figur nachdenken kann, und das bedeutet nicht, dass etwas durch das Nachdenken zerstört wird – das ist, glaube ich, Intelligenz. Wenn man zu einem Schauspieler sagt: «Dein Gang dort hat mir gefallen», kann er das nicht noch einmal genauso wiederholen – aber sie kann es.

6 - Wie haben Sie Ihre neuen Schauspieler gefunden? Was ist der Prozess?

Christian Petzold: Manchmal ist es so: Enno Trebs zum Beispiel, der Devid spielt, er hatte eine kleine Rolle in «Undine», drei Sätze, nicht mehr. Er war zwei Tage da und ich habe ihn immer wieder angeschaut und gesehen, dass er wirklich fantastisch ist. Man kann es sehen.

Die meisten meiner Darsteller kenne ich. Es hat etwas mit Rainer Werner Fassbinder zu tun. Weil wir in Deutschland keine wirkliche Filmindustrie haben, müssen wir selbst eine Factory oder ein Studiosystem aufbauen, auf eine sehr kleine Art und Weise. Fassbinder hat das gemacht. Er hatte 15 Schauspieler und Leute hinter der Kamera, mit denen er 10, 15 Jahre lang zusammengearbeitet hat – und das ist ein bisschen das Ziel, das ich habe. In meinem nächsten Film ist zum Beispiel Franz Rogowski wieder dabei, Barbara Auer kommt wieder und Matthias Brandt auch.

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7 - Das Thema Feuer spielt in «Roter Himmel» eine wichtige Rolle. Waren die Waldbrände im vergangenen Jahr dafür eine Inspiration oder hatten Sie das Thema von Anfang an im Kopf?

Christian Petzold: Wissen Sie, all diese Sommerfilme, die ich so sehr mag aus der Geschichte des Kinos, meistens aus Frankreich und den USA – die gibt es in Deutschland nicht. Man kann sie in Deutschland Elternfilm nennen, aber das französische und das amerikanische Kino erschafft Sommerfilme ohne Eltern. Als ich jung war, gab es einen Sommer, in dem ich wusste, dass es viele, viele Sommer geben wird, die nach mir kommen und meine Kinder würden auch ihre eigenen Sommer haben. Aber ich habe das Gefühl, dass nicht mehr so viele dieser Sommer kommen werden.

Ich war vor zwei Jahren in einem türkischen Wald, der völlig verbrannt war. Völlig verbrannt. Man konnte nichts hören. Es gab diese Stille dort. Da war kein Vogel, kein Wind, kein Insekt, nichts. Wenn man das sieht und über die jungen Leute und die Klimakatastrophe nachdenkt, die auf sie wartet, dann ist das ein Thema, das jetzt in den Filmen vorkommen muss. Es ist nicht das Thema der Filme, ich will keinen Ökothriller machen. Aber es ist Teil der Jugend. Ich kann es an der Denkweise meiner Kinder sehen. Sie denken nicht so, wie ich gedacht habe, als ich in ihrem Alter war. Also, das Feuer, das kommt, die Wälder, die brennen, die Sommer, die zu Ende gehen – das muss in der Mentalität des Films liegen.

8 - Was können Sie uns über Ihr nächstes Projekt erzählen?

Christian Petzold: Das nächste Projekt handelt von einer jungen Frau, die in eine Familie kommt und mit der etwas nicht stimmt, es ist ein bisschen Horror. Der Film ist wieder mit Paula Beer. Ich habe den Stoff ein bisschen mit ihr zusammen entwickelt. Denn wie ich schon sagte, ist sie eine intelligente Schauspielerin.

Weitere Informationen zu «Roter Himmel»

Seit dem 25. Mai im Kino zu sehen.

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