Interview22. November 2023 Cineman Redaktion
Interview: Ken Loach und Paul Laverty über «The Old Oak»: «Man muss seinem Instinkt vertrauen»
In «The Old Oak» zeigen uns Regie-Altmeister Ken Loach und Drehbuchautor Paul Laverty die Ankunft syrischer Geflüchteter in einem englischen Dorf – wir haben die beiden Filmschaffenden in Cannes getroffen und mit ihnen über das Sozialdrama gesprochen.
Interview von Marine Guillain, Übersetzung aus dem Französischen
Ken Loachs «The Old Oak» feierte erst am letzten Tag der Filmfestspiele von Cannes Premiere. In dem neuen Sozialdrama des zweifachen Gewinners der Goldenen Palme (für «The Wind That Shakes the Barley», 2006, und «I, Daniel Blake», 2016) sehen sich die ärmlichen Bewohner eines Dorfes in Nordengland mit der Ankunft syrischer Geflüchteter konfrontiert. Der Besitzer des namensgebenden Pubs TJ (Dave Turner) freundet sich mit der jungen syrischen Fotografin Yara (Ebla Mari) an. Cineman hat den 87-jährigen Regisseur und seinen treuen Drehbuchautor Paul Laverty einen Tag nach der offiziellen Premiere an der Croisette getroffen.
Cineman: Wie fühlt es sich an, diese Ausgabe des Filmfestivals von Cannes zu beschliessen?
Ken Loach: Früher haben wir immer in den Pubs gesungen, bis sie geschlossen haben. Aber ein Festival zu beenden, das ist eine ganz neue Erfahrung! (lacht). Das Publikum war gestern Abend sehr herzlich – es war grossartig und wir werden es in guter Erinnerung behalten.
Sie haben lange an diesem Film gearbeitet: Wie haben Sie das Drehbuch und die Geschichte entwickelt?
Paul Laverty: Wir sind in den Nordosten Englands gefahren, mit dem Ziel etwas zu entdecken, das die Gegensätze unserer Zeit einfangen würde. Diese Dörfer haben uns viele Anregungen geliefert. Infolge der Bergarbeiterkrise von 1984 waren viele Gemeinden zerstört. Die Menschen verloren ihre Arbeit, fanden sich in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wieder, die Infrastruktur wurde stillgelegt, die Dörfer verarmten... In der Zeit danach gab es infolgedessen widersprüchliche Reaktionen auf die Ankunft der Geflüchteten. Einige reichten ihnen die Hand, aber viele Menschen waren sehr wütend. Für uns war es wichtig, die Wurzeln dieser Wut zu untersuchen und dann zu versuchen, sie zu verstehen.
War dies der schwierigste Film, den Sie gemeinsam gemacht haben?
Ken Loach: Es stimmt, dass es ein schwieriger Film war. Zunächst einmal, weil wir zwar in den Zeitungen lesen, was in Syrien alles passiert ist, wir diese Situation aber nicht selbst erlebt haben. Tatsächlich leben alle Familien aus dem Film nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem wir gedreht haben – diese Menschen kennen die Wahrheit, die wir zeigen wollten, aus ihrem eigenen Leben. Dave Turner zum Beispiel, der TJ verkörpert, stammt aus diesem Dorf. Er ist Feuerwehrmann, er kennt die Leute in der Gegend, er betreibt auch einen Pub, er musste schon Leute rauswerfen... er weiss also, wie das alles funktioniert. Paul Laverty hat das Drehbuch geschrieben, nachdem er den Erzählungen der Leute dort zugehört hatte, und hat sich sehr von realen Situationen inspirieren lassen. Es gab noch viele weitere Szenen, die wir hätten auswählen können, die es aber einfach nicht in den Film geschafft haben.
Warum?
Paul Laverty: Weil wir nur zwei Stunden Zeit haben, um alles zu schildern. Alles muss also sehr konzentriert sein und gleichzeitig braucht man genug Zeit, um die syrische Geschichte, die Gemütszustände der Figuren und dann eine Form der Lösung zu entfalten...
Ken Loach: Zum Beispiel wurde eine der Familien im Film an einem Kontrollpunkt fast hingerichtet, sie konnten sich gerade noch durchschlagen. Wir haben aussergewöhnliche Geschichten gehört, aber man kann sie nicht alle erzählen, weil sie so schrecklich sind, dass man auf keinen Fall verharmlosen möchte, was ihnen passiert, indem man ihnen nicht genügend Raum gibt. Es ist schwierig, das richtige Gleichgewicht zu finden.
Sie sind Stammgäste bei den Filmfestspielen in Cannes. Warum denken Sie, werden Ihre Filme, diese Themen und Ihre Perspektive darauf vom Publikum so sehr geschätzt?
Ken Loach: Nun, ich denke, wenn man Geschichten erzählt, die sich auf reale Erfahrungen stützen, und das geschickt genug macht, werden sich die Leute mit ihnen immer identifizieren.
Paul Laverty: Man muss seinem Instinkt vertrauen. Ungerechtigkeit ist überall zu finden. Wenn man ausreichend recherchiert, genügend Menschen trifft und ihnen zuhört, kann es sein, dass sich eine Geschichte herauskristallisiert. Wenn sie die Menschen berührt, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass wir etwas aufgewühlt haben, das die Erlebnisse von Millionen von Menschen widerspiegelte.
Weitere Informationen zu «The Old Oak»
Ab dem 23. November 2023 im Kino zu sehen.
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