Interview14. November 2024 Cineman Redaktion
Mohammad Rasoulof über «The Seed of the Sacred Fig»: «Egal, was mit mir passiert, ich musste den Film zu Ende bringen»
Der in Cannes und Locarno umjubelte Film «The Seed of the Sacred Fig», der auch für die Oscars ins Rennen geht, erscheint diese Woche in den Kinos der Deutschschweiz. Cineman traf den iranischen Filmemacher im vergangenen Sommer in Locarno und sprach mit ihm über Inspiration, seine Haftstrafen und wie man einen Film im Geheimen dreht.
Interview und Text von Marine Guillain; übersetzt aus dem Französischen
Sonntag, 11. August 2024 in Locarno, Temperaturen um 36 Grad. Ein kleiner Tisch und einige Stühle waren im Gras unter einem Baum in der Nähe der Piazza Grande aufgestellt worden, um für etwas Abkühlung zu sorgen. Als wir an der Reihe waren, hatte Mohammad Rasoulof bereits mehrere Stunden lang die Fragen der Journalist:innen beantwortet, und am nächsten Tag stand ihm nach der Vorstellung von «The Seed of the Sacred Fig» auf der Piazza Grande und bewegenden Standing Ovations eine weitere, ebenso lange Gesprächsrunde bevor. Trotz seiner wahrscheinlichen Müdigkeit beantwortete der Regisseur, der im Mai letzten Jahres aus dem Iran geflohen war, um einer weiteren Gefängnisstrafe zu entgehen, voller Energie unsere Fragen, da er mehr als alles andere «wahre und wichtige Geschichten» erzählen wollte.
Aufgrund seiner Begegnungen mit politischen Gefangenen, die bis heute nicht freigelassen wurden und die keine Stimme haben, erklärt der regimekritische Regisseur, dass er um jeden Preis einen Weg finden müsse, um ausserhalb der Mauern das wiederzugeben, was im Inneren geschieht. Sein Film, ein politischer Thriller um ein harmonisches Zuhause, das sich später aufgrund der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» spaltet, schnürt einem die Kehle zu und beeindruckt durch seine Kraft und seine Sehnsucht nach Freiheit.
Cineman: Wie haben Sie sich gefühlt, als die Bewegung «Frauen, Leben, Freiheit» begann?
Mohammad Rasoulof: Ich befand mich zu dieser Zeit im Gefängnis. Ich hörte ein bisschen von dem, was ausserhalb des Gefängnisses passierte. Eines Nachts gab es ein Feuer in einem anderen Teil des Gefängnisses und ich dachte, dass es vielleicht Leute von draussen waren, die eine Revolution wie in der Bastille anfangen und uns retten würden! (lacht laut auf.) Im Gefängnis hatten wir Zugang zu Fernsehen und Zeitungen, aber es handelte sich um offizielle Nachrichten, die stark zensiert wurden. Dafür durften wir telefonisch Kontakt zu etwa fünf unserer Verwandten halten. Dort hörten wir die echten Nachrichten. Alle politischen Gefangenen hatten unterschiedliche und wir tauschten sie untereinander aus. Als die Bewegung grösser wurde, war ich erstaunt und beeindruckt! Ich fand, dass die Frauen mutiger waren als die Männer.
Wie entstand die Idee für das Drehbuch zu «The Seed of the Sacred Fig»?
Mohammad Rasoulof: Als ich im Gefängnis war, hat mir ein Wärter einen Stift geschenkt. Ich war etwas misstrauisch, also fragte ich ihn, warum er das tut, und er antwortete: «Ich arbeite hier, aber jeden Tag überlege ich, mich zu erhängen, weil ich mich so schuldig fühle.» Er erzählte mir, dass seine Kinder ihn fragten, was er bei der Arbeit macht, und dass er sich schäme, und so entstand in meinem Kopf die Idee zu dieser Familiengeschichte und zu einem Vater, der sich für das, was er tut, schämt, denn nach dem Stolz, an dem Gericht, an dem er arbeitet, befördert worden zu sein, muss er feststellen, dass er in Wirklichkeit willkürlich Todesurteile bestätigen muss.
Wie ist es möglich, im Iran einen illegalen Film zu drehen, wenn die Behörden Sie bereits im Visier haben?
Mohammad Rasoulof: Klar, wenn dein Name erst einmal in den Papieren der Zensurbehörde steht, ist alles viel schwieriger und gefährlicher. Aber alles war so organisiert, dass ich nicht erwischt werden konnte. Ich war oft weit weg vom Set, auf dem Rücksitz eines Autos mit einem Kopftuch vor dem Gesicht, und gab aus 200 m Entfernung Anweisungen in ein Walkie-Talkie. Wenn die Polizei oder Ermittlungsbeamte kamen, war ich bereit, schnell zu fliehen.
Sie wurden zu mehreren Jahren Gefängnis und Peitschenhieben verurteilt und sind aus dem Iran geflohen, als der Film noch nicht ganz fertig war.
Mohammad Rasoulof: Mitten in den Dreharbeiten erhielt ich die erste Verurteilung. Ich fragte meinen Anwalt, wie lange es noch dauern würde, bis ich inhaftiert werden würde. «Zwei oder drei Monate», sagte er mir. Also wollte ich den Film in dieser Zeit fertigstellen. Aber es war Noruz, das Neujahrsfest des persischen Kalenders, was die Zeit verkürzte, da alles ein wenig langsamer abläuft. Ich war in ständigem Kontakt mit dem Cutter des Films in Hamburg, wir arbeiteten zusammen und er schnitt die Rohfassungen im Laufe der Dreharbeiten. Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, was mit mir passieren würde, dass er vielleicht eine Zeit lang nichts mehr von mir hören würde, aber dass er den Film fertigstellen müsse, egal was mit mir passiere.
Wie sicher sind Sie und die Filmcrew heute?
Mohammad Rasoulof: Ich kann nicht sagen, dass sie sich in Sicherheit befinden, da sie psychisch unter Druck stehen. Diejenigen, die im Iran sind, können das Land nicht verlassen, ihre Pässe werden konfisziert und sie dürfen nicht arbeiten. Was mich betrifft, so möchte ich nicht genau darüber sprechen, wie ich den Iran verlassen habe, weil das zu gefährlich ist. Aber dank der Hilfe von Gefangenen, die ich im Gefängnis kennengelernt habe, und meiner Bekannten in Europa bin ich durch mehrere Länder gereist, die ich geheim halte, bevor ich nach Deutschland kam. Das Exil ist derzeit die einzige Möglichkeit für mich, weiterhin Filme zu machen. Im Gefängnis wird permanent versucht, uns zu zerstören, das ist sehr schwer, aber es stärkt auch, es motiviert noch mehr. Man wird mich nie davon abhalten, für das zu kämpfen, woran ich glaube.
«The Seed of the Sacred Fig» ist seit dem 14. November im Kino zu sehen.
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