Artikel13. August 2018 Julian Gerber
Locarno Festival 2018: Das war die 71. Ausgabe
Den Internationalen Wettbewerb gewann, wieder einmal, ein sozialkritisch-innovativer Film aus Asien. Die Piazza zeigte volksnahes Kino in einem interessanten Mix. Die Auftritte von Stars und Strippenziehern überzeugten. Die Bilanz der Schweizer Filme war, wieder einmal, durchzogen.
Ein Text von Silvia Posavec, Dino Pozzi, Sabrina Schwob und Katja Zellweger
Goldener Leopard für Neon-Noir aus Singapur
Das sechste Festival von Carlo Chatrian, der Locarno in Richtung Berlin verlässt, war ein besonders stimmiges, die Basis für eine erfolgreiche Nachfolge ist gelegt. Die Nachfolgerin, so wird gesagt, soll eine Frau und aus der Deutschschweiz sein. Klar ist: sie muss als Gratwandererin mindestens so gut sein wie der Vorgänger. Dass der Goldene Leopard an den singapurischen Neon-Noir «A Land Imagined» geht, kann überraschen. Sowohl über die südamerikanischen Beiträge «La Flor» und «Tarde para morir joven» als auch über Hong Sang-soos «Gangbyun Hotel» wurde in Locarno enthusiastischer diskutiert.
Die Chilenin Dominga Sotomayor «Tarde para morir joven» darf sich immerhin mit dem Preis für die beste Regie trösten, während Ki Joo-Bong für seine Darstellung in Sang-soos Film als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. Beste Schauspielerin ist Andra Guti für ihre Titelrolle in «Alice T.». Das erstaunt nicht nur, weil Radu Munteans Film als einer der schwächeren diskutiert wurde. Wenn es dem diesjährigen Wettbewerb an etwas bestimmt nicht mangelte, dann an interessanten und überzeugend gespielten Frauenfiguren. In dieser Hinsicht dürfen sich die Hauptdarstellerin von «Sibel», «Tarde para morir joven», «La Flor», «Diane», «Yara» und «A Family Tour» durch die Jury übergangen fühlen.
Plattform für aufstrebende Regisseur*innen
Siegerfilm der diesjährigen «Cineasti del presente» mit 16 Langspielfilmen, die meisten davon Erstlinge, ist der Dokumentarfilm «Chaos». Er begleitet drei vom Krieg traumatisierte Syrerinnen, die in einer fast hörbar lautlosen Leere verharren. Filmisch-poetische Zugänge zur harten Arbeitsrealität und -migration finden «Closing time» der Schweizerin Nicole Vögeli und «Temporada» aus Brasilien. Letzterer überzeugt mit unglaublichen Laiendarstellern. Der französische Film «L’èpoque» leuchtet mitten in die Hoffnungen und Ängste der jungen Nachtschwärmer rund um die Place de la République. «Sophia Antipolis», nur nach aussen hin eine Dokumentation, untersucht im französischen Sillicon Valley Park einen Mord.
Durchzogene Bilanz der Schweizer Beiträge
Das Panorama Suisse bot ein Übergewicht an Dokumentarfilmen. Zwischen den Genres bewegt sich vor allem «Chris the Swiss» von Anja Kofmel. Die Spuren ihres verstorbenen Cousins führen sie zurück in den Jugoslawienkrieg. Ein gefährliches Terrain – Kofmel durchsetzt ihre filmische Reise mit bildgewaltigen Animationen, welche die Grenzen zwischen Imaginiertem und Recherchiertem verschwimmen lassen. «Les Dames» von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond konzentriert sich ganz auf das Gefühlsleben von Frauen über 60. Heraus kommen fünf intime und berührende Porträts.
Und die Spielfilme? Sie bedienen – leider gilt das in einem gewissen Ausmass auch für Thomas Imbachs «Glaubenberg», der im Internationalen Wettbewerb lief, und für Bettina Oberlis «Le vent tourne» im Piazza-Programm – zu oft Klischees, es mangelt ihnen ausserdem an Humor und Experimentierfreude. Am ehesten überzeugt, aufgrund seines mutigen Settings und überzeugender Schauspieler, das Flüchtlingsdrama «Fortuna».
Kino am Puls der Zeit
Engagierte und aktuelle Dokumentarfilme laufen seit jeher auch in der Semaine de la critique. Im diesjährigen Programm ging es um die Rechte der Frau («#Female Pleasure»), den Konflikt zwischen medizinischer Diagnostik und Selbstbestimmung («Dani Ludila»), um Verhehrungen in Kriegsgebieten («Zanani ba gushvarehaye baruti») oder um Sonnen- und Schattenseiten der gesellschaftlichen Modernisierung in der Geschichte einer in Ungarn ankommenden Somalierin («Könnyu leckék»). Besonders herauszuheben: «L'Apollon de Gaza» zeichnet anhand des mysteriösen Auftauchens einer 750 Kilo schweren Statue das Porträt einer Stadt Gaza mit Akteuren, deren Perspektiven diverser nicht sein könnten, die aber eine eine gemeinsame Geschichte gestalten müssen.
Der vorliegende Text entstand im Rahmen der Locarno Critics Academy, AutorInnen sind die vier Mitglieder der Schweizer Sektion.
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