Artikel23. Januar 2019 Irina Blum
Małgorzata Szumowska zu «Twarz - Mug»: "Ich kann honigsüsse Geschichten nicht ausstehen!"
Mit der Geschichte über einen jungen Mann, dessen Leben nach einem schlimmen Unfall auf den Kopf gestellt wird, staubte die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska an der letztjährigen Berlinale den Grossen Preis der Jury ab. Zusammen mit dem Drehbuchautor Michał Englert spricht sie über ihren Film «Twarz - Mug», die polnische Gesellschaft und Metallica.
Der Ausgangspunkt war, dass eine solche Operation bisher bloss in Polen durchgeführt wurde. Wir haben die Geschichte dann in eine globalere Allegorie über das Land gepackt.
Es war in Polen wie auch weltweit eine absolute Premiere: 2013 wurde die erste lebenserhaltende Gesichtstransplantation an einem wie durch ein Wunder noch lebenden Patienten durchgeführt. «Twarz - Mug» erzählt die niederschmetternde Geschichte von ebendiesem Jungen Mann namens Jacek, einem Aussenseiter mit langer Heavy-Metal-Mähne und einer Vorliebe für Metallica, der in einem ländlichen Gebiet im östlichen Polen arbeitete, auf dem Baugelände der weltweit höchsten Jesusstatue. Doch just, als er das Gesicht des Heiligen bearbeitet, verliert er auf dem Gerüst das Gleichgewicht und fällt in die Tiefe – 15, 20 Meter.
Wir wollten über das Thema Identität reden. Im Film ist die zentrale Figur dieser Mann, dessen Aussehen sich aufgrund seines Gesichts völlig verändert und der seine Identität an sein Umfeld verliert. Dieses Umfeld ist dieses kleine polnische Dorf, das äusserst traditionell ist und unweigerlich Angst erzeugt.
Der Film handelt auch von Intoleranz. Wenn Sie diese Menschen zum Beispiel fragen, wovor sie am meisten Angst haben, werden sie die Flüchtlinge nennen. Das Befremdliche daran ist, dass es dort keine Flüchtlinge gibt! Zum Schluss könnte man es fast so zusammenfassen: Der Film handelt von Angst und Intoleranz.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass die neue Generation halbnackt durch einen Laden rennt, nur um einen Fernseher gratis zu bekommen.
Diese Gesellschaftskritik vermischt Małgorzata Szumowska mit satirischen Einstreuungen. Da ist zum Beispiel diese Szene im von Traditionen geprägten Dorf bei Jaceks Eltern zu Hause, der Schnaps fliesst in Strömen, die Zungen beginnen sich langsam zu lockern: „Ein Schwarzer, ein Jude und ein Muslim sind in einem Boot. Plötzlich beginnt das Boot zu sinken. Wer gewinnt? Die Gesellschaft!“ Lautes Männergelächter folgt, man kann die Vodka-Fahne, die in der Luft liegen muss, förmlich riechen.
Die Kirche bekommt aber auch sonst ihr Fett weg – zum Beispiel am Schluss, wenn die Konstrukteure merken, dass die seit Monaten mit intensivster Arbeit zusammengesetzte Jesusstatue in die falsche Richtung zeigt. Auch die Anfangsszene strotzt nur so vor Groteske: Im Supermarkt sehen wir in Zeitlupe Männern und Frauen jeglichen Alters und höchstens in Unterwäsche bekleidet zu, die sich unter viel Gerangel einen Fernseher schnappen – die ersten 50 Kunden erhalten den Fernseher kostenlos.
Für die Älteren ist der Wunsch nach Besitz sehr präsent. Es kommt nicht auf den Gegenstand an – solange er billig ist, hat man einen guten Grund, ihn zu kaufen.
Auch wenn es das noch gäbe, ich kann mir kaum vorstellen, dass die neue Generation halbnackt durch einen Laden rennt, nur um vielleicht einen Fernseher gratis zu bekommen. Dies ist ein Blick auf meine Generation und diejenige davor: Dies sind zwei problematische Generationen. In Polen sind diese Leute völlig festgefahren. Als ich 17 Jahre alt war, ist in Polen der Kommunismus zusammengebrochen, aber wir bleiben stigmatisiert.
Jacek muss nach seiner Rückkehr ins Dorf seiner Eltern eine neue Identität suchen: Er, der Freak, der Aussenstehende, ist nun zwangsläufig immer derjenige, der auffällt – und in seinem Alltag auf sein Umfeld angewiesen ist. Äusserlich völlig entstellt und mit Mühe beim Sprechen, wenden sich auch die letzten Bezugspersonen von ihm ab: Seine Grosseltern, seine Eltern, sogar seine Verlobte Dagmara (Małgorzata Gorol), die sich sang- und klanglos aus dem Staub macht. Bloss seine Schwester (Agnieszka Podsiadlik) hält noch zu ihm und unterstützt ihn, wo es nur geht.
Die Geschichte in «Mug - Twarz» ist – insbesondere nach dem Unfall – brutal, die Situation scheint aussichtslos, es herrscht eine generelle Antriebslosigkeit. Nichtsdestotrotz verliert der Film nie seine satirische Komponente und wird genau deshalb nicht zum tränentreibenden Drama.
Wir wollten, dass der Film Überraschungen bereithält.
Wir wollten den Film beinahe in etwas "Wildes" eintauchen. Es war wichtig, die emotional starken, lustigen oder kritischen Momente niemals künstlich zu verlängern. Wir wollten, dass der Film Überraschungen bereithält und hinsichtlich seiner Hauptfigur etwas Lebendiges behält.
Ich kann honigsüsse und überaus moralische Geschichten nicht ausstehen. Ich dachte, diese Erzählweise würde dem Film eine gewisse Würde und etwas Magie verleihen.
Auch die unscharfen Kameraaufnahmen der kargen, manchmal trostlos, manchmal idyllisch wirkenden polnischen Landschaft tragen zur Metaphysik des Films bei – als Zuschauer hat man ständig das Gefühl, den Spiegel vorgehalten zu bekommen: Weil die moderne (polnische) Gesellschaft völlig fixiert auf Konsum, Religion und Erfolg vor allem dem Schein viel beimisst.
Der Film trägt die Idee einer verzerrten und gestörten Gesellschaft. Mit den unscharfen Aufnahmen wollten wir die Aufmerksamkeit des Betrachtes auf gewisse Dinge lenken und ihn den Figuren näherbringen.
Schliesslich nutzt der Film den amerikanischen Metal der 80er-Jahre als Zeichen der Rebellion und des Protests: Jacek braust mit seinem roten Mini-Auto mit verbotener Geschwindigkeit über schmale Feldwege und verlassene Dorfstrassen, im Hintergrund immer höllisch laut seine Musik, die im krassen Gegensatz zur traditionellen und spiessigen Haltung der Landbevölkerung steht.
Ich habe Metallica nie besonders gemocht.
Aber ich kann bestätigen: Das erste Album ist genial.
«Twarz - Mug» läuft ab dem 24. Januar in den Deutschweizer Kinos.
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