Kritik23. Oktober 2020 Michelle Knoblauch
Netflix-Kritik «Die bunte Seite des Mondes»: Trauerbewältigung durch grosses Abenteuer
Basierend auf einem chinesischen Mythos, schickt das Animationsmusical «Die bunte Seite des Mondes» seine junge Heldin auf eine abenteuerliche Reise, in deren Verlauf sie lernen muss, einen schmerzhaften Verlust zu verarbeiten.
Filmkritik von Christopher Diekhaus
Schon im Kleinkindalter haben es Fei Fei (Stimme im Original: Brycen Taylor Hall) die Geschichten ihrer Mutter (Ruthie Ann Miles) angetan, die ihr immer wieder von der sagenumwobenen Mondgöttin Chang’e erzählt. Einer Frau, die einst ihren Geliebten verlor, weil sie einen Unsterblichkeitstrank zu sich nahm und seither mit dem Jadekaninchen auf dem Erdtrabanten lebt. Als ihre Mama nach schwerer Krankheit stirbt, bricht für Fei Fei eine Welt zusammen, auch wenn sich ihr Vater (John Cho) liebevoll um sie kümmert.
Der Schlussakt hält schöne Momente des Innehaltens bereit.
Vier Jahre nach dem Tod seine Ehefrau möchte er seiner Tochter (nun gesprochen von Cathy Ang) seine neue Partnerin (Sandra Oh) vorstellen, bringt es aber nicht über sich, ihr von seinen Heiratsplänen zu erzählen. Kein Blatt vor den Mund nimmt hingegen Chin (Robert G. Chiu), der achtjährige Sohn seiner Freundin, der Fei Fei mit seinem quirligen Auftreten von Anfang an auf die Nerven geht. Verärgert darüber, dass ihr Vater ihre Mutter offenbar vergessen hat, setzt sie sich ein äusserst ambitioniertes Unterfangen in den Kopf. Ein für alle Mal möchte sie beweisen, dass es die Mondgöttin wirklich gibt, und ihren Papa damit an die schöne Zeit mit der Verstorbenen erinnern.
Die Versuche der willensstarken Hauptfigur, eine funktionsfähige Rakete zu bauen, werden auf witzige und visuell abwechslungsreiche Weise im Schnelldurchlauf gezeigt und lassen ein kurzweilig-dynamisches Animationsabenteuer vermuten. Ein Abenteuer, das mit seiner Trauerthematik und dem ungewöhnlichen Vorhaben, in den Himmel abzuheben, an Pete Docters berührenden Pixar-Streifen «Oben» erinnert, der im Jahr 2009 die Herzen der Kinozuschauer im Sturm eroberte.
Dessen inhaltlicher Kraft und emotionaler Tiefe hinkt der in der chinesischen Kultur verwurzelte Netflix-Film dann aber doch ein ganzes Stück hinterher. Nach dem einfühlsamen ersten Drittel wechseln die Macher rund um Glen Keane und Koregisseur John Kars, die auf jahrelange Erfahrungen als Animatoren zurückblicken können, in den Kirmesmodus und schicken Fei Fei und ihren knuffigen Begleiter Chin nach ihrer wundersamen Ankunft auf dem Mond in das farbenfrohe, Lunaria getaufte Reich von Chang’e (Phillipa Soo). Einen Ort, der allerlei schräge Geschöpfe beherbergt. Sprechende Mondkuchen und fliegende Frösche trifft man hier ebenso wie bunte Hühner auf Motorrädern.
Die von allen verehrte Mondgöttin, die bei ihrem ersten Auftritt ihre eigene Schönheit besingt und wie ein abgehobener Popstar wirkt, verhält sich zu Fei Feis Erstaunen ganz anders als in den Schilderungen ihrer Mutter. Der Mittelteil der Handlung dreht sich schliesslich um die Suche nach einem besonderen Geschenk, das es der verbitterten, abweisenden Chang’e ermöglichen soll, endlich ihren vor langer Zeit verlorenen Geliebten wiederzusehen. Rasante Actionszenen und skurrile Begegnungen in der leuchtenden Lunaria-Welt rauschen hier an einem vorbei, während der Film nur sporadisch charakterliche Akzente setzt.
Dass Fei Fei auf ihrer Reise lernen muss, loszulassen und neuen Menschen Eintritt in ihr Leben zu gewähren, zeichnet sich schon früh ab. Den Weg zu ihrem Erkenntnisgewinn hätte man dennoch feinfühlig und eindringlich beschreiben können. «Die bunte Seite des Mondes» versucht es jedoch meistens auf eher plakative Art. Obwohl der Schlussakt einige schöne Momente des Innehaltens bereithält, fehlt es dem mit eingängigen Gesangseinlagen bestückten Film an erzählerischer Originalität, um zu einem unvergesslichen Ereignis zu werden.
3 von 5 ★
«Die bunte Seite des Mondes» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.
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