In seinem ersten englischsprachigen Spielfilm fasst der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó («Jupiter’s Moon») mit dem Tod eines Neugeborenen ein beklemmendes Thema an und treibt seine Hauptdarstellerin Vanessa Kirby in der Rolle der trauernden Mutter zu einer eindrucksvollen Performance.
Filmkritik von Christopher Diekhaus
Selten ist es einem Film in letzter Zeit gelungen, gleich in der ersten halben Stunde ein Wechselbad der Gefühle heraufzubeschwören, von dem man sich nicht eine Sekunde lang lösen kann. Der Auftakt des Netflix-Dramas «Pieces of a Woman» ist an Intensität nur schwer zu überbieten. In einer einzigen ungeschnittenen Einstellung, die über 20 Minuten dauert, verfolgen wir die Hausgeburt der Tochter von Martha (Vanessa Kirby) und Sean (Shia LaBeouf). Zwei Menschen, die in diesem Augenblick nicht wie erdachte Figuren wirken, sondern wie echte Lebenspartner auf einer Achterbahnfahrt zwischen Euphorie, Nervosität und Angst. Dass die von ihnen ausgesuchte Hebamme gerade jetzt verhindert ist, sorgt anfangs für Verstimmung. Viel Zeit, sich aufzuregen, haben Martha und Sean jedoch nicht. Denn gemeinsam mit der ersatzweise einspringenden Eva (Molly Parker) müssen sie sich nun durch die Entbindung kämpfen.
Die Kamera bleibt dabei stets nah dran, gibt Vanessa Kirbys – an dieser Stelle vor allem körperlich – unerschrocken mitreissender Performance grossen Raum und fängt einige wunderbar intime, unter die Haut gehende Paarmomente ein. Martha und Sean sind hier ein Team, stützen und ergänzen sich. Das Warten auf den ersten Schrei des Babys kommt einer kleinen Ewigkeit gleich und erzeugt eine fast schon thrillerhafte Spannung. Wenn nur wenig später pures Glück in grosse Panik umschlägt, als das Neugeborene plötzlich blau anläuft, kennt die Erschütterung keine Grenzen.
Kornél Mundruczó und Drehbuchautorin Kata Wéber verpassen dem Zuschauer mit dem Abschluss ihres ersten Aktes einen heftigen Schlag.
Kornél Mundruczó und Drehbuchautorin Kata Wéber verpassen dem Zuschauer mit dem Abschluss ihres ersten Aktes einen heftigen Schlag und schildern im Anschluss, wie unterschiedlich Martha und Sean mit dem schrecklichen Verlust umgehen. Der Fokus liegt dabei – der Titel deutet es schon an – auf dem Erleben der Frau, die von tiefer Zerrissenheit erfasst wird. Rund drei Wochen nach dem Schicksalsschlag taucht sie bereits bei der Arbeit auf, beschliesst gegen Seans Willen den Leichnam ihrer Tochter der Wissenschaft zu spenden und lässt ihr Umfeld nur noch selten an sich ran. Manchmal macht sie einen fast teilnahmslosen Eindruck, scheint den Schmerz komplett beiseitezuschieben. Mitunter blitzen aber auch ihre Qualen kurzzeitig auf. Sean hingegen trägt sein Leid deutlicher nach aussen und versucht mehrfach, Martha wieder zu erreichen. Anders als noch zu Beginn leben sie nun allerdings in getrennten Sphären.
Ein aufwühlendes Verlustdrama, dessen schmerzhafte Fragen und Erkenntnisse länger nachhallen.
Gerade nach dem Tod eines Kindes, noch dazu eines frischgeborenen Babys, ist es für ein Ehepaar sicherlich wichtig, nicht in Schweigen zu verfallen, sich gegenseitig Halt zu geben. «Pieces of a Woman» zeigt aber sehr eindringlich, wie leicht sich diese Dinge sagen lassen. Trauer ist nämlich etwas sehr Individuelles. Sehr schön kondensiert der Film diesen Gedanken in einem Apfelmotiv, dessen bewegende Bedeutung sich erst spät offenbart.
In den Augen ihrer Mutter Elizabeth, von Leinwandveteranin Ellen Burstyn mit Inbrunst verkörpert, verhält sich Martha vollkommen falsch. Statt sich wegzuducken, solle sie den Kopf nach oben strecken und beweisen, dass sie kämpfen könne. Auch im Hinblick auf den anstehenden Prozess gegen die Hebamme, die die Geburt begleitet hat. Elizabeth handelt zuweilen bestürzend übergriffig und findet selten mitfühlende Worte, verkommt jedoch nicht zu einer eindimensionalen Schreckschraube. Vielmehr legt ein emotionaler, ihre Vergangenheit kurz beleuchtender Ausbruch offen, warum sie ihre Tochter so vehement auffordert, Stärke zu demonstrieren und sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen.
Dass «Pieces of a Woman» nicht auf ein komplett deprimierendes Ende zuläuft, lässt das wiederkehrende, etwas plakative Bild einer im Bau befindlichen Brücke erahnen. Irgendwann müssen die beiden Asphaltabschnitte aufeinandertreffen. Das letzte Drittel hätte zwar noch ein wenig Feinschliff vertragen können. Unter dem Strich steht aber ein aufwühlendes Verlustdrama, dessen schmerzhafte Fragen und Erkenntnisse länger nachhallen.
4 von 5 ★
«Pieces of a Woman» ist ab Januar 2021 auf Netflix verfügbar.
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