Artikel2. Februar 2023

Sundance Film Festival 2023: Heimat der internationalen Autorenfilme

Sundance Film Festival 2023: Heimat der internationalen Autorenfilme
© Sundance Film Festival

Jeweils Ende Januar lädt das Sundance-Filmfestival in den kleinen Skiort Park City ein, um den internationalen Autorenfilm zu feiern. Vom 19. bis 29. Januar war es nun wieder so weit. Für Liebhaber des unabhängigen Filmschaffens und für Festivalmacher aus aller Welt, die hier nach vielversprechenden Titeln für ihre eigenen Programme suchen, ist das Festival der erste wichtige Filmtermin des Jahres.

Artikel von Teresa Vena

Traditionellerweise werden hier Filme gezeigt, die eine gewisse thematische Ausrichtung gemeinsam haben. Besonders auffällig ist die Vorliebe der Kuratoren und Kuratorinnen – und dies seit Beginn des Festivalbestehens – für Filme übers Erwachsenwerden, sogenannte Coming-of-age-Filme. Romantische Liebeskomödien («Romcoms») und schliesslich Sozialdramen im Familienkontext gehören zu den nächstbeliebtesten Filmgenres.

Auch in diesem Jahr hat sich an der Gewichtung dieser Motive nichts geändert. Es ist nicht erstaunlich, dass sich bei dieser Voraussetzung, einige Titel als die Variation eines immer gleichen Grundthemas anfühlen. Umso aufregender war es, auch Autoren und Autorinnen zu begegnen, die ihre Originalität unter Beweis zu stellen vermochten und thematisch wie künstlerisch hervorgestochen sind.

Unter den Hauptpreisträgern dieser Festivalausgabe ist jeweils eine konventionelle als auch eine aussergewöhnliche Behandlung dieser Stoffe zu finden. Dieses Jahr konnten die US-amerikanischen Titel weit mehr überzeugen als die «internationalen».

«Scrapper» – Bester internationaler Spielfilm

Charlotte Regan, UK, 2022, 84 min.

«Scrapper» – Bester internationaler Spielfilm
«Scrapper» – Bester internationaler Spielfilm © IMDb

Ein elfjähriges Mädchen lebt in einer Sozialwohnsiedlung in einem Aussenquartier von London. Der Blondschopf ist weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Weil Georgie weiss, dass das Jugendamt sie in eine Einrichtung überführen würde wenn bekannt wäre, dass sie seit dem Tod ihrer Mutter alleine lebt, hat sie eine Reihe von Ablenkungsmanövern installiert. So gab sie beispielsweise an, dass sich ihr Onkel um sie kümmere. Dass die Sozialarbeiterin bei dessen angeblichem Namen Winston Churchill nicht stutzig geworden ist, bleibt ein Rätsel. Für die Kontrollanrufe des Jugendamts ist Georgie gewappnet. Sie hat den Mitarbeiter eines Krämerladens in der Siedlung gebeten, verschiedene Sätze auf Band aufzusprechen. Diese spielt sie während der Telefonate geschickt an der richtigen Stelle ab.

Die ganze Vorgeschichte des Films ist äusserst dicht und präzise inszeniert. Die Dialoge sind humorvoll und auch auf dem Niveau der Protagonistin. Die Freundschaft, die sie mit dem gleichaltrigen Ali verbindet, zeichnet das Drehbuch ebenfalls einfühlsam. Doch ab der zweiten Hälfte des Films, als Georgies verschollener Vater (souveräne von Harris Dickinson, der zuletzt in «Triangle of Sadness» zu sehen war) erscheint und sich um das Mädchen kümmern will, wird die restliche Handlung leicht voraussehbar. Formal bemüht sich der Film mit gestellten Interviewsequenzen, in denen verschiedene Figuren aus Georgies Umfeld zu Wort kommen, um eine Auflockerung der Gesamtstruktur. Das gelingt auch, doch dieses Stilmittel kennt man ebenfalls bereits aus einigen Vorgängerfilmen.

4 von 5 ★

«A Thousand and One» – Bester US-amerikanischer Spielfilm

A.V. Rockwell, USA, 2022, 117 min.

«A Thousand and One» – Bester US-amerikanischer Spielfilm
«A Thousand and One» – Bester US-amerikanischer Spielfilm © IMDb

Es ist 1993: Inez (Teyana Taylor) ist frisch aus dem Frauengefängnis entlassen worden. Daraufhin versucht sie, in Brooklyn wieder als Friseurin Fuss zu fassen. In der Zwischenzeit war ihr Sohn Terry bei einer Pflegefamilie untergekommen. Um den etwa Zehnjährigen nicht ein weiteres Mal zu verlieren, zieht sie, als es Schwierigkeiten in Brooklyn gibt, kurzerhand mit ihm nach Haarlem, ohne die Behörden zu informieren. Um nicht als Entführerin belangt zu werden oder Terry zurückgeben zu müssen, besorgt sie ihm neue Papier und schult ihn unter einem anderen Namen ein. Das Ausmass dieser Handlung bleibt Terry immer verschlossen, doch Jahr später kommt es zur Aufklärung und zum grossen Bruch.

Der Film erzählt die Geschichte einer zusammengewürfelten Familie in einem der einst ärmsten und gefährlichsten Quartier New Yorks über etwa fünfzehn Jahren hinweg. Haarlem und seine Veränderung über die Jahre wird zum zweiten Protagonisten in diesem einfühlsamen Sozialdrama, das von Mut, Verantwortung und bedingungslose Liebe handelt. So sentimental sich das auch anhört, tatsächlich vermeidet die Regisseurin über den Gesamtfilm hinweg einen sentimentalen Tonfall. Eindrücklich und unvergesslich ist hier zweifelsohne Teyana Taylor, die vor Kraft strotzt, mit ihrer Sturheit manchmal den Kopf schütteln lässt, während man an anderer Stelle dann doch bewundernd zunickt.

5 von 5 ★

«Shortcomings» – Kategorie USA Spielfilm

Randall Park, USA, 2022, 92 min.

«Shortcomings» – Kategorie USA Spielfilm
«Shortcomings» – Kategorie USA Spielfilm © IMDb

Ben (Justin H. Min) geht keiner Diskussion aus dem Weg, er gibt nie nach. Nicht, wenn es darum geht, einen Film als zu niveaulos oder zu opportunistisch zu bezeichnen, auch nicht, wenn er seiner Freundin Miko (Ally Maki) das Praktikum in New York vermiesen will und selbst dann nicht, wenn ihm seine beste Freundin, die lesbische Alice (Sherry Cola), ihre grosse Liebe vorstellt. Eigentlich wäre Ben ein höchst charmanter, sehr intelligenter und nicht zuletzt gutaussehender Typ, doch dann kommt immer wieder sein Zynismus hervor, der im Grunde seine eigene Unsicherheit kaschieren soll.

Endlich sind in den USA Filme sichtbar, die einer bisher wenig repräsentierten Minderheit des Landes, der asiatisch-amerikanischen Bevölkerung, eine Plattform gibt. Dabei geht es nicht, wie auch in dieser romantischen Komödie, in erster Linie um die Verhandlung sozialer oder politischer Themen, die genau diese Bevölkerungsgruppe betrifft. Im Gegenteil passiert das hier wie nebenbei. Im Vordergrund steht das Porträt eines jungen Mannes, der seinen Platz im Leben noch sucht. Der Film erinnert an Woody Allen, als er noch in Höchstform war. Dicht und äussert humorvoll inszeniert, mit einem expressiven, sehr begabten Hauptdarsteller (Justin H. Min, war in der Serie «New Amsterdam» oder in «After Yang» zu sehen) besetzt.

5 von 5 ★

«Jamojaya» – Kategorie USA Spielfilm

Justin Chon, USA, 2022, 90 min.

«Jamojaya» – Kategorie USA Spielfilm
«Jamojaya» – Kategorie USA Spielfilm © IMDb

James (Brian Imanuel) ist ein vielsprechender indonesischer Rapper, der als Jugendlicher in die USA gezogen ist. Die Arbeit an einem neuen Album steht bevor, das die Plattenfirma gross aufziehen will. Dafür quartieren sie James auf Hawaii ein, wo er mit Luxus überhäuft wird. Hauptsache er konzentriert sich auf die Arbeit. Der Besuch seines Vaters (Yayu A. W. Unru) kommt natürlich allen ungelegen. Erst recht, weil er sich in bereits geklärte Vorgänge einmischt. Insbesondere der Plattenfirma ist er ein Dorn im Auge, weil er James den Floh ins Ohr setzt, dass er sich von ihnen manipulieren und ausnehmen lasse. James, der nach dem zum Greifen nahe scheinenden Erfolg lechzt, stösst seinen Vater fort. Doch der weiss, wann ihn sein Sohn braucht.

Regisseur Justin Chon hat seinem triefend sentimentalen Abschiebedrama «Blue Bayou» mit dieser neuen Arbeit zu Höchstform gefunden – dies sowohl auf der Erzählebene als auch in Bezug auf das visuelle Konzept des Films. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn, die hier im Zentrum steht, erinnert an die Motive aus seinem Vorgängerfilm. Doch arbeitet Chon jetzt viel lakonischer und damit weit weniger pathosgeladen, was den Film in seiner Intention weit relevanter macht. Auch ist bei «Jamojaya» eine einheitliche, präzise Kameraführung zu sehen und eine natürlich wirkende, wenn auch weiterhin sichtlich präzise konzipierte Bildsprache erkennbar. Im Übrigen wird der Film auch von den beiden Hauptdarstellern getragen, wobei Brian Imanuel als James, wirklich ein Rapper, der ursprünglich aus Indonesien stammt.

5 von 5 ★

«Fair Play» - Kategorie USA Spielfilm

Chloe Domont, USA, 2022, 113 min.

«Fair Play» - Kategorie USA Spielfilm
«Fair Play» - Kategorie USA Spielfilm © IMDb

Die Wallstreet ist vermutlich immer noch eher männlich geprägt. Gut denkbar, dass die Atmosphäre zum Teil so chauvinistisch ist, wie in diesem eindrücklichen Sozialdrama. Im Vordergrund steht ein Paar um die Dreissig. Sie arbeiten beide beim gleichen Hedgefonds, halten es aber geheim, weil Beziehungen unter Mitarbeitern nicht geduldet werden. Als sie befördert wird, ist er in einem ersten Schritt unterstützend, und freut sich. Doch nach den ersten sexistischen Kommentaren unter den Kollegen kippt die Stimmung bereits. Er fühlt sich zurückgesetzt und beginnt ihre Qualifikation abzusprechen. Je näher die Verlobungsfeier kommt, die ihre Eltern für sie organisieren, desto mehr eskaliert die Situation zwischen dem Paar.

Ungläubig, mit offenem Mund und gleichzeitig die Faust ballend schaut man zu, wie es zu dieser Eskalation kommt. Die Stärke des Films liegt in der Gestaltung des Psychogramms der Figuren, das nie überspitzt oder unglaubwürdig wirkt, sondern vielmehr beängstigend realistisch. So sieht ein Film aus, der sich auf gelungene Weise mit Themen wie strukturellem Sexismus und verbaler wie physischer Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt. Erinnert fühlt man sich insbesondere an «The Assistant», der im Vergleich aber noch eine Spur souveräner ist als «Fair Play», da es letzterem gegen Ende an einer nötigen Straffung fehlt. Auch hätte an gewissen Stellen mehr Lakonik für eine gesteigerte Prägnanz gesorgt.

4 von 5 ★

«Radical» - Kategorie Premieres

Christopher Zalla, USA, 2022, 127 min.

«Radical» - Kategorie Premieres
«Radical» - Kategorie Premieres © IMDb

Matamores ist eine kleine mexikanische Stadt nicht weit von der US-Grenze entfernt. Hier ist alles vorzufinden, was die Vorurteile über Mexiko hergeben: Drogenhandel, bewaffnete Gewalt, Kleinkriminalität. Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Lehrer ausgerechnet hierher versetzen lässt. Sergio (Eugenio Derbez) ist ein Idealist. Er möchte den Kindern, denen hier mit manipulierten Abschlusstests ein Diplom zugeschanzt wird, das ihnen nichts hilft, eine echte Zukunftsperspektive ermöglichen. Dafür legt er sich von Anfang an mit seinen längst resignierten Kollegen und dem Rektor der Schule an – und wider Erwarten schafft er das Unmögliche.

Auf unsentimentale Weise erzählt der Film von diesem Lehrer, den es wirklich gibt, sowie einer seiner Schülerinnen, die dank ihm eine Hochbegabtenförderung zugehalten werden konnte. Auch wenn im letzten Drittel ein paar Längen entstehen, die man einfach durch die Straffung des Stoffes hätte vermeiden können, ist «Radical» an sich ein versöhnlich stimmender Film, in dem es um universelle Werte wie das Recht auf Bildung, Verantwortung und Zusammenhalt geht.

4 von 5 ★

«Landscape with Invisible Hand» - Kategorie Premieres

Cory Finley, USA, 2022, 105 min.

«Landscape with Invisible Hand» - Kategorie Premieres
«Landscape with Invisible Hand» - Kategorie Premieres © IMDb

Es sind die 2030er-Jahre und die VUVVs haben die Erde übernommen. Sie haben die Menschen lange Zeit beobachtet, deren Technologien verbessert und die ganze Mittelklasse damit überflüssig gemacht. Sie kontrollieren das Bildungs- und Rechtssystem. Sie leben auf in der Atmosphäre schwebenden Felsen, die mit menschenähnlicher Architektur bebaut sind, und überschauen die Geschicke der Menschen unten auf der Erde. Viele hier sind arbeitslos, so auch die Familie von Adam (Asante Blackk) und Chloe (Kylie Rogers). Adam bietet Chloe, die mit ihrem Bruder und Vater auf der Strasse lebt, an, bei ihm, seiner Mutter und Schwester in den Keller einzuziehen. Die zwei Jugendlichen verlieben sich und finden einen Weg, durch dieses Gefühl Geld zu verdienen, indem sie die Naivität in Bezug auf das menschliche Gefühl der Liebe der VUVVs ausnutzen.

Man könnte «Landscape with Invisible Hand» als Do-it-yourself-Science-Fiction-Film bezeichnen und meint damit sowohl die positiven als auch die eher negativen Aspekte, die diese Bezeichnung hervorruft. Sichtbar ist, dass nur wenig Geld für die Produktion zur Verfügung stand. Die Ausstattung hätte etwas üppiger ausfallen können: So hätte das eine oder andere Motiv etwas mehr Tiefe erhalten. Abgesehen davon, dass dem Film insgesamt ein zügigerer Erzählrhythmus gutgetan hätte, sticht äussert positiv hervor, dass einige gute Ideen verarbeitet wurden. Ein paar Umsetzungen wirken reichlich gebastelt, aber sind mitunter auch gerade deswegen charmant.

3 von 5 ★

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