Artikel14. April 2023

SXSW 2023: Ein Besuch am interdisziplinären Festival in den USA

SXSW 2023: Ein Besuch am interdisziplinären Festival in den USA
© Kygo at Moody Amphitheater – SXSW 2022 – Photo by Holly Jee

Es soll sich um ein besonders vibrierendes, abwechslungsreiches und inklusives Festival handeln: Das South by Southwest, kurz SXSW. Der Ruf des Festivals sollte sich bestätigen; die Erwartungen wurden noch übertroffen. Mitte März flogen wir nach Austin, um uns das anzusehen, und haben dir einige Eindrücke und Filmtipps mitgebracht.

Artikel von Teresa Vena

Es ergoss sich ein äusserst buntes Festivalvolk über die breiten Strassen und die verschiedenen Spielstätten. Genauso vielfältig wie das Publikum selbst sind die Gebäude, die für Konzerte, Konferenzen oder Filmvorführungen bereitstehen. Da gibt es das etwas heruntergekommene Multisaalkino, in dem man sich Hähnchenflügel, Pizza oder mit Käse überzogenen Nachos und Kübel mit Softdrinks bestellen konnte, mehrere Mehrzweckhallen, ein paar Off-Theatersäle mit entsprechender unbequemer Bestuhlung oder die beiden traditionellen altehrwürdigen Kinos auf der Congress Avenue, das Paramount und das Stateside Theater. An der Fassade hängen ihre blinkend beleuchteten Namensschilder sowie klassische Programmtafeln.

Es ist schwer, neben dem Filmeschauen auch noch an anderen Veranstaltungen teilzunehmen, dafür ist das Programm zu reichhaltig, wenn auch nicht übertrieben aufgebläht. Das Programm scheut sich nicht, nahe am Geschmack des Publikums zu sein und dem Genre viel Raum zu geben. SXSW beweist, was man nicht müde sein sollte, zu wiederholen: Genrefilme können genauso politisch oder sozialkritisch relevant sein, wie Filme, die sich von vornherein als solche bezeichnen. Auswählen konnte man aus Horrorfilmen, Thrillern, absurden Komödien und wilden Genremischungen. Die Ausbeute war gross.

1. «Raging Grace» – Preis für den besten Spielfilm

Rassismus-Horror

Paris Zarcilla | UK, 2023, 99 min.

© SXSW

Joy (Max Eigenmann) kam mit ihrer Tochter aus den Philippinen nach England. Sie hat keine gültigen Papiere und arbeitet deswegen illegal als Putzfrau, wohnt dabei in den Häusern ihrer Arbeitgeber, wenn diese im Urlaub sind. Ihre Sachen, darunter ihr mühsam zusammengespartes Geld, stellt sie in einem unbeachtet geglaubten Besenschrank unter. Ihre Tochter Grace hat es satt, kein eigenes Zimmer zu haben. Sie rebelliert, indem sie Spässe mit der Mutter treibt. Sie schüttet Currypulver in den Kaffee oder spielt Verstecken.

Durch einen Zufall bekommt Joy eine Anstellung als Haushälterin in einem grossen Anwesen. Die Nichte des bettlägerigen Mannes bittet sie ins Haus einzuziehen. Das könnte eine richtige Wende für Mutter und Tochter werden. Doch erstmal muss Grace sich noch verstecken, denn von einer Tochter hat Joy ihrer Arbeitgeberin nichts gesagt. Als Joy und Grace alleine im Haus sind, entdecken sie, dass die Nichte ihrem Onkel ganz offensichtlich Medikamente verabreicht, die ihn in dessen Krankheitszustand überhaupt gebracht haben. Kurzentschlossen entgiften sie ihn, er kommt zu sich und ist den beiden offenbar dankbar. Schnell merken sie aber, dass die Nichte ihre Gründe für ihr Handeln hatte: Der Alte ist bösartig.

«Raging Grace» ist der erste Spielfilm, der als britisch-philippinische Koproduktion im britischen Fernsehen gezeigt werden wird, sagte der Regisseur Paris Zarcilla, selbst ein Brite mit philippinischen Wurzeln, bei der Weltpremiere des Films beim SXSW. Geschickt spielt er mit klassischen Elementen des Horrorfilms: ein grosses Anwesen mit vielen Räumen und einer im Ernstfall zur Gefahr werdenden steilen Treppe fungiert als Schauplatz. Hinzu kommen eine mysteriöse Krankheit, Figuren in der Illegalität und ein Kind natürlich. Die zahlreichen Wendungen in der Geschichte kommen tatsächlich unerwartet. Glaubt man, der Autor sei nun doch dem Kitsch verfallen, schlägt eine Keule bissiger Satire zu. «Raging Grace» funktioniert sowohl als Thriller als auch als Gesellschaftskritik, die die Situation von Migranten, wie sie weltweit existiert, thematisiert.

5 von 5 ★

2. «Only the Good Ones Survive»

Showdown unter Kleinstadtganoven

Dutch Southern | USA, 2023, 92 min.

© SXSW

Brea (Sidney Flanigan) sitzt vor dem Sheriff (Frederick Weller) einer kleinen texanischen Ortschaft. Sie will seine Hilfe, denn ihre Freunde seien Opfer einer gewalttätigen Satanistengruppe geworden. Der Sheriff wirkt nicht sonderlich beeindruckt, er glaubt Brea auch nur bedingt. Frage um Frage ändert sich die Perspektive des von Brea erzählten Tathergangs, der im Film mit Rückblenden visualisiert wird. Einigen können sich die beiden grob auf die Tatsache, dass die Freunde in das Haus eines älteren Paares eingedrungen sind, um dort nach wertvollen Goldmünzen zu suchen. Gefunden haben sie aber nur einen Säugling, der auf dem Dachboden in einem Käfig gehalten wurde. Diesen haben sie befreit und sind geflohen. Gemäss Brea wurden sie daraufhin von einer Gruppe maskierter Menschen verfolgt, die das Kind als satanistisches Opfer nutzen wollten.

Der Film ist dicht erzählt und inszeniert, die Bildfindung originell, da sie klassische Aufnahmen mit Animationstechnik vermischt und besitzt neben zwar bekannten, aber dennoch effektiven Horrorelementen eine gehörige Portion Humor und Selbstironie. Dass der Regisseur mit dem klangvollen Namen Dutch Southern mit einem eher bescheidenen Produktionsbudget auskommen musste, kann man an der Konzentration der Schauplätze und der reduzierten Ausstattung ablesen. Dennoch ist hier ein hervorragendes Spielfilmdebüt gelungen, das sich zudem in die Heimatregion Texas der Filmschaffenden einschreibt. Der Film sei genauso verrückt wie die Leute in Texas, man werde beide lieben oder hassen, meinte der Regisseur. Wir lieben beides.

5 von 5 ★

3. «Late Night with the Devil»

Eine Late Night Show mit Gast aus der Hölle

Colin Cairnes, Cameron Cairnes | USA, 2023, 92 min

© SXSW

In der Halloweennacht von 1977 möchte der Fernsehmoderator Jack Delroy (David Dastmalchian) nach einer persönlichen und beruflichen Krise sein Comeback feiern. Dafür hat er es auf einen ganz besonderen Gast abgesehen: Satan höchstpersönlich. Dieser kommt in Form eines 14-jährigen Mädchens, das einst für satanische Rituale missbraucht wurde und seitdem den Teufel als Dauerbegleiter hat. Unter den richtigen Umständen kann man diesen hervorlocken. Doch natürlich ist Vorsicht geboten. Um in der Live-Sendung die möglichst grösste Sensation zu erschaffen, lässt sich Jack zur Unvorsicht verleiten – das wird er noch bereuen.

Es ist herausragend, wie die beiden Regisseure und Brüder Colin Cairnes und Cameron Cairnes in diesem Horrorfilm echtes Archivmaterial mit inszeniertem Archivmaterial und neuen Aufnahmen verbinden. Die Ästhetik der 1970er Jahre ist ebenso eindrücklich eingefangen. Durch den schnellen Schnitt vor allem am Anfang erzeugt der Film Spannung und durch eine gesunde Portion Selbstironie lacht man immer wieder befreit auf, wenn man sich vorher erschrocken hat. So geht moderner Horror, man muss inhaltlich nicht zwangsläufig etwas Neues erfinden, es reichen ein paar individuelle Kniffe hier und da, um ein begeisterndes Werk zu schaffen, das sich von der sonstigen Massenware abhebt.

5 von 5 ★

4. «It Lives Inside» – Publikumspreis «Midnighters»-Sektion

Ein Geist, der Traurigkeit bestraft

Bishal Dutta | USA, 2023, 99 min.

© SXSW

Erwachsenwerden ist schon schwer genug, wenn sich dann auch noch ein böser Geist dabei einmischt, wird es zur Hölle. So geht es den einst besten Freundinnen Sam (Megan Suri) und Tamira (Mohana Krishnan). Letztere hat auf einem Dachboden, auf dem sich ein junger Mann vor Kurzem das Leben genommen haben soll, einen Dämon gefunden und ihn notdürftig in ein Einmachglas eingefangen. Doch er kommt frei und richtet Unheil an – nur glaubt den Mädchen niemand. Dann verschwindet Tamira plötzlich. Sam kämpft zeitgleich an einer zweiten Front: Ihre Mutter ist enttäuscht darüber, dass sie sich von ihren indischen Wurzeln immer mehr zu distanzieren scheint. Sie hilft nicht beim Kochen für ein traditionelles Opferfest, sie will amerikanisches Mittagessen zur Schule mitnehmen und verkehrt nicht mehr mit anderen aus der Gemeinde.

Das Motiv des Erwachsenwerden ist nicht erst seit Regisseur Bishal Dutta im Horrorgenre beliebt. Es bietet sich sehr dafür an, ist man doch in dieser Altersgruppe vermutlich noch am naivsten und empfänglichsten für Übernatürliches, aber auch noch so unsicher über das eigene Selbst, dass die seelenfressenden Monster leichtes Spiel haben. Hinzu kommt das Thema der Migration und des Zwiespalts, das das Aufwachsen zwischen zwei oder mehreren Kulturen bedeuten kann. Einige Elemente sind besonders auffällig und etwas didaktisch angewendet, andere etwas subtiler, wenn man erst nach und nach erkennt, wie tief das Zerwürfnis der Hauptfigur Sam geht, die sich das Gesicht aufhellend schminkt. Ein paar Opfer wird es im Film geben, sonst wäre es nicht realistisch – und die sterben auf doch recht ausgeklügelte und effektvolle Weise – doch an sich zielt der Film auf ein versöhnendes Ende zu. Erstaunlich ist dabei die Philosophie, die hinter dem indischen Geist steht, der sein Unwesen treibt – er speist sich aus Traurigkeit und Unsicherheit. Gejagt werden die Betroffenen, aber auch jeder, der versucht, ihnen zu helfen.

4 von 5 ★

5. «Appendage»

Der böse Blinddarm

Anna Zlokovic | USA, 2023, 94 min.

© SXSW | Powell Robinson

Hannah (Hadley Robinson) ist eine junge Modedesignerin und arbeitet bei einem bekannten Modemacher, der fast alle ihre neuen Entwürfe abschätzig verwirft. Sie steht deswegen unter grossem Druck. Sie wird immer unsicherer, bis plötzlich ihr Blinddarm übermässig anschwillt. Er wächst und wächst, bis er schliesslich ausbricht. Ein potthässliches, verkrüppeltes Wesen liegt ihr vor den Füssen und gibt sich als ihr Alter-Ego aus. Es ernährt sich von ihrer Unsicherheit und schürt diese mit suggestiven Fragen und bösartigen Bemerkungen. In der Zeitung stösst Hannah auf eine Anzeige und findet zu einer Selbsthilfegruppe, deren Mitglieder offenbar das gleiche Problem haben. Das Ding müsse man unterdrücken, sagen sie. Doch so einfach ist das nicht.

Wie den einen vor Stress und Kummer ein Magengeschwür wachsen soll, ist es hier der Blinddarm, der rebelliert. Das ist bereits ein origineller Einfall. Die Ausarbeitung zum Horrorfilm lässt die Geschichte zusätzlich hervorstechen. Dieses Spielfilmdebüt der Regisseurin Anna Zlokovic zeichnet sich durch ein gutes Schauspiel, eine dichte Inszenierung und viel Humor aus. Ein solches Monster, eine Art inneren Schweinehund, kennt vermutlich jeder. Selbstkritik ist sicherlich nicht ungesund, doch man darf auch an sich glauben – das fällt manchmal insbesondere Frauen schwer. Man muss nicht perfekt sein, um richtig zu sein.

4 von 5 ★

6. «With Love and a Major Organ»

Vorsicht zerbrechlich

Kim Albright | Kanada, 2023, 91 min.

© SXSW | With Love and a Major Organ (2023)

Anabel (Anna Maguire) glaubt noch an die grosse Liebe. Erst recht, seit sie im Park George (Hamza Haq) kennengelernt hat. Er scheint auch nicht abgeneigt, doch als sie ihm ihre Liebe gesteht, antwortet er lakonisch mit «Ich kann nicht». Anabel ist am Boden zerstört, dann stirbt auch noch ihre Mutter und ihr Herz ist endgültig gebrochen. Kurzerhand reisst sie es sich aus der Brust und schickt es George per Post. Er soll damit machen, was er will, aber Achtung, es ist zerbrechlich. George ersetzt sein Herz mit dem von Anabel und plötzlich sieht er die Welt mit ganz anderen Augen, viel bunter, viel emotionaler. Für Anabel hingegeben hat das Leben all seinen Glanz verloren.

Regisseurin Kim Albright nimmt den Spruch «Ich schenke dir mein Herz» wörtlich und hat eine romantische Liebeskomödie geschaffen, die mit viel Witz und auch ein wenig Seltsamkeit zu berühren vermag. Dieses Gefühl der Trauer, das kaum auszuhalten ist, werden viele kennen. Darum geht es auch im Film. Wer war nicht schon einmal an dem Punkt, dass er sich gerne das Herz herausgerissen hätte, wenn damit der Schmerz gelindert hätte werden können?

3,5 von 5 ★

7. «Flamin' Hot» – Publikumspreis Spielfilm

Geschmacksverstärker

Eva Longoria | USA, 2022, 99 min.

© SXSW | EMILY ARAGONES/COURTESY SEARCHLIGHT

Richard Montañez (Jesse Garcia) ist ein mexikanischer Einwanderer in den USA der 1970er-Jahre. Als Ausländer sind ihm nur schlechte Berufsperspektiven vergönnt, weswegen er froh ist, dass er als Putzkraft in einer Chips-Fabrik eingestellt wird. Diese gerät in eine Krise und ausgerechnet Richard hat die zündende Idee, wie man diese überwinden könnte. Man muss Produkte für die hispanoamerikanische Gemeinde schaffen: scharfe Chips nämlich. Er experimentiert selbst herum und nach langem Hin- und Her gelingt es ihm, die Idee an seine Arbeitgeber zu verkaufen.

Die Regie für diese Aufsteigergeschichte hat Ex-«Desperate Houswives»-Star Eva Longoria übernommen, die damit ihr Debüt hinter der Kamera gibt. Der Film ist eine Hommage an die hispanoamerikanische Gemeinde der USA, zu der auch Longoria gehört. Vor wie auch hinter der Kamera haben viele Mitglieder davon teilgenommen. Auch wenn der Film ein wenig kitschig ist, muss er in diesem Kontext betrachtet werden. Für den US-amerikanischen Markt hat er eine gesellschaftspolitische wichtige Bedeutung. Dennoch ist er durchaus in Teilen gelungen, da er schnell geschnitten ist, die Zeit gut rekonstruiert und kurzweilig ist.

3,5 von 5 ★

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