Interview18. Oktober 2018 Irina Blum
«The Guilty»: "Das Publikum ist viel schlauer, als man denkt"
Ein Raum, ein Mann, ein Telefon: Das ist die Kurzzusammenfassung des packenden dänischen Kammerspiel-Thrillers «The Guilty», in dem ein Polizist von einer Notrufzentrale aus einen Entführungsfall lösen muss – mit seinem Telefon als Waffe. Hauptdarsteller Jakob Cedergren und Regisseur Gustav Möller reden im Interview darüber, wieso sie immer an das Projekt geglaubt haben, inwiefern schwarz-weisse Denkweisen schlecht sind und warum «Der Weisse Hai» ein guter Film ist.
Was hat Sie dazu inspiriert, einen Film zu machen, der nur in einem Raum spielt und hauptsächlich auf eine Person fokussiert ist?
Gustav Möller: Die Inspiration war ein echter Notruf, den ich auf Youtube gefunden habe. Das war wie in «The Guilty» ein Entführungsfall. Zuerst war ich fasziniert, wie spannend ein blosser Telefonanruf sein kann. Die Hauptsache war es aber, diese Frau und den Ort, der im Anruf beschrieben wird, zu sehen. Obwohl ich nur etwas gehört habe, habe ich Bilder gesehen – diese sind aber für jede Person wieder anders.
Ich fand es dann eine spannende Prämisse, einen Thriller zu machen, der für jeden Zuschauer einzigartig ist. Und von da an haben wir zu recherchieren begonnen: Wir sind in Einsatzzentralen gegangen, haben uns Notrufe angehört und mit den Polizisten gesprochen, die dort arbeiten. Daraus haben wir unsere Figuren kreiert, und danach eine Geschichte entwickelt.
Es ist fast eine gute Sache, dass man die Geschichte zuerst langweilig findet – es ist ja schliesslich nur ein Mann am Telefon.
War es schwierig, andere von diesem Konzept zu überzeugen?
Gustav Möller: Ich glaube, unser Trick war es, den Leuten einen richtigen Notruf vorzuspielen und ihnen zu sagen, dass wir dieses Erlebnis ins Kino bringen wollen. Es ist fast eine gute Sache, dass man die Geschichte zuerst langweilig findet – es ist ja schliesslich nur ein Mann am Telefon. Das war unsere Herausforderung: Trotz dieser Limitationen einen spannenden Film daraus zu machen.
Jakob Cedergren, haben Sie das Potential des Konzepts von Anfang an erkannt?
Jakob Cedergren: Ja, ich habe mich sofort in das Drehbuch verliebt. Das erste Mal, als ich es gelesen habe, war es noch nicht ganz fertig, Gustav wollte, dass die Schauspieler von Beginn an in den Prozess involviert sind. Aber dieser erste Entwurf, der hat mich fasziniert. Es ist eine grossartige Geschichte, ich mag den Konflikt darin, dieses Charakterdrama inmitten des Thrillers.
Es ist, als würdest du als Kind im Tivoli in die Geisterbahn gehen.
Gab es während dem Prozess einen Punkt, an dem Sie gezweifelt haben?
Jakob Cedergren: Nein, nie. Ich glaube, dass man den Film sehen muss, um das zu verstehen, und man darf vorher so wenig wie möglich darüber wissen. Wie als Kind, wenn du im Tivoli (einem Vergnügungspark in Kopenhagen) in die Geisterbahn gehst. Es fühlt sich ähnlich an: Man weiss nicht, worauf man sich eingelassen hat.
Gustav Möller: Ich wusste, dass es ein guter Film sein könnte. Es hat etwa ein Jahr gedauert, bis das Drehbuch definitiv stand. Natürlich hat man da immer wieder Herausforderungen, aber der Produzent, der Co-Drehbuchautor und ich hatten ein gutes Gefühl beim Projekt.
Es ging darum, jemanden zu finden, dem man gerne während 90 Minuten beim Telefonieren zuschaut.
Das Casting ist natürlich extrem wichtig für einen Film wie diesen. Wie haben Sie Jakob Cedegren gefunden – hatten Sie ihn schon im Kopf, als Sie die Rolle geschrieben haben?
Gustav Möller: Ich bin schon lange ein Fan von ihm. Wir haben ihn aber ganz normal zum Casting eingeladen. Nicht, weil wir schauen wollten, ob er gut schauspielern kann – das wussten wir schon. Es ging mehr darum, jemanden zu finden, dem man gerne während 90 Minuten beim Telefonieren zuschaut. Er hat eine sehr faszinierende Art, irgendwie etwas Mysteriöses an sich, das wichtig ist für den Film.
Und wie bereitet man sich als Schauspieler auf eine solche Rolle vor?
Jakob Cedergren: Für mich als Schauspieler waren es ideale Bedingungen: Wir haben chronologisch gedreht, und die Telefon-Anrufe wurden live aufgenommen, in einem Raum neben dem Studio. Der Dreh hat echt Spass gemacht. Wir haben uns auch penibel darauf vorbereitet: Während sechs Monaten haben wir am Drehbuch geschraubt, weil wir wussten, dass die Drehzeit kurz sein würde. Somit waren wir uns sehr sicher, wo das Ganze hinsoll, was sicherlich hilfreich war. Es waren die besten Bedingungen, die man sich hätte wünschen können.
Für die Telefonanrufer haben Sie ebenfalls Schauspieler eingesetzt. Wie haben Sie diese gefunden?
Gustav Möller: Wir haben ein blindes Casting gemacht, ich habe bloss Tonaufnahmen gehört. Ich kannte also ihre Namen oder Gesichter nicht. Für die Zuschauer ist es dasselbe: Man hört nur ihre Stimme. Ich habe deshalb nach markanten Stimmen gesucht, die einem genügend Informationen über ihr Aussehen, ihren Hintergrund geben können. Und auch innerhalb von Sekunden berühren können. Es kam also aufs Hören und Rausspüren drauf an. Bei Iben zum Beispiel, die von Jessica Dinnage gespielt wird, wusste ich innerhalb von Sekunden, dass sie perfekt passen würde.
Nebst den Stimmen ist auch die Geräuschkulisse während den Telefonaten sehr wichtig. Was war hier Ihre Herangehensweise?
Gustav Möller Der Film spielt nur in der Notrufzentrale, aber durch die Geräuschkulisse wird man als Zuschauer an viele verschiedene Orte katapultiert. Genau wie bei den Stimmen haben wir versucht, mit den Geräuschen Bilder erzeugen zu lassen. Es war also sehr wichtig, sehr spezifische Geräusche zu haben.
Zum Beispiel hört man einmal einen Anruf aus einem verlassenen Haus, das mussten wir nur mit dem Öffnen der Türe und ein paar Schritten vermitteln. Es ging also darum, Geräusche zu finden, die gleich ein volles Bild kreieren. Es sollte auch authentisch sein, aber nicht wie in einem wirklichen Telefongespräch, sondern eher, als wäre man live beim Anrufer und würde alles hautnah miterleben.
Viele Geschichten haben die Tendenz, es mit ihrer Erklärung zu übertreiben.
Als Zuschauer lernt man Asgers Charakter, die Hauptperson, Stück für Stück kennen, gewisse Dinge bleiben aber bis zum Schluss unklar. Sie hingegen haben von Anfang an alles über diese Person gewusst.
Jakob Cedergren: Ein grosser Teil des Prozesses beim Schneiden des Films war es, möglichst viele Informationen über Asger wieder rauszunehmen. Viele Geschichten haben die Tendenz, es mit ihrer Erklärung zu übertreiben – der Zuschauer ist meiner Meinung nach viel schlauer, als viele Leute denken. Es ist nicht interessant, wenn du am Schluss jede Antwort hast – ich mag es, wenn gewisse Dinge offen bleiben und nicht alle Fragen komplett beantwortet werden. Das gibt es heutzutage aber leider selten.
Der Film handelt von Schuld, einer Sache, die häufig als schwarz-weiss angesehen wird. Wieso ist das so?
Jakob Cedergren: Schwierige Frage. Ich glaube nicht, dass ich eine Antwort darauf habe. Ich würde aber sagen, dass wir in diesem Film nach dem Grauen gesucht haben. Schwarz-weiss gibt einem Antworten, die Grautöne sind kompliziert, entsprechen aber eher der Realität. Ich mag den Konflikt, wenn jemand etwas Schlechtes mit einer guten Absicht gemacht hat. Gute Absichten können schieflaufen. Das passt auch zu Asger: Er hat Leidenschaft, ist aber auch ein Rebell.
Gustav Möller: Ich glaube, unsere Art, Dinge in schwarz-weiss zu sehen ist eine Art Vereinfachung, mit Sachen umzugehen und sie zu verurteilen. Mit «The Guilty» wollten wir ein komplexeres Bild erschaffen. Menschen haben eine klare Idee im Kopf, was falsch und was richtig ist. Auch im Film: Es wird uns immer wieder das Bild von Gut und Böse vermittelt, es gibt immer einen Helden und einen Gegenspieler.
Wir haben das für den Beginn des Films benutzt, um das dann im Verlauf der Geschichte aufzulösen und realistischer zu machen. Das echte Leben ist nie einfach nur Schwarz und Weiss. Es gibt einen grossen Graubereich. Jeder Mensch hat gute und schlechte Seiten.
Zum Teil haben die Leute das Gefühl, Szenen ausserhalb der Notrufzentrale gesehen zu haben.
Waren Sie froh, dass «The Guilty» für so viele Leute zu funktionieren scheint, obwohl er von jedem unterschiedlich erlebt wird?
Gustav Möller: Ja! Ich glaube, die Dinge, die in einem Film bewusst nicht gezeigt werden, sind die furchteinflössendsten. Zum Beispiel in «Der weisse Hai»: Der Hai ist so beängstigend, weil man ihn sich lange selber vorstellt, bis man ihn zu Gesicht bekommt. Das ist eine starke Komponente, die wir in unserem Film ins Extreme getrieben haben.
Es war ein Experiment – das erste Mal, als wir ihn gezeigt haben, wussten wir nicht, wie das Publikum reagieren würde. Seither lief der Film an vielen Festivals, und scheinbar mögen ihn die Leute. Es ist grossartig, sich mit den Zuschauern auszutauschen – auch weil er so unterschiedlich wahrgenommen wird. Zum Teil haben die Leute das Gefühl, Szenen ausserhalb der Notrufzentrale gesehen zu haben.
Es kommt auch sehr darauf an, wie man das Gesehene und Gehörte interpretiert, was man sich vorstellt – ähnlich wie bei einem Buch.
Jakob Cedergren: Genau, es hängt sehr viel von dir als Kinozuschauer ab. Es ist lustig, dass die Leute nach dem Kinobesuch zum Teil sehr sicher sind, dass sie gewisse Szenen gesehen haben – obwohl sie nicht gezeigt wurden. Aber sie haben ein ganz klares Bild davon. So funktioniert unsere Vorstellungskraft, sie ist sehr stark.
«The Guilty» läuft ab sofort in den Kinos.
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