Article24. Januar 2023 Cineman Redaktion
Kein Halten mehr – 7 Rauschhafte Filmerlebnisse
Schnitte, Farben, Töne und Bewegungen – wie wohl kein anderes Medium schafft es der Film, das Publikum in einen rauschhaften Sog zu ziehen, es rettungslos mitzureissen. Ein Gefühl des Taumels, komplette Überwältigung haben seit den Anfängen des Kinos nicht wenige Leinwandwerke produziert. Damien Chazelles kürzlich gestarteter Fiebertraum «Babylon – Rausch der Ekstase» über die Ausschweifungen der Hollywood-Industrie in den 1920er- und 1930er-Jahren soll als Ausgangspunkt dienen, um uns den schwindelerregenden Qualitäten einiger Filme zu widmen.
Ein Artikel von Christopher Diekhaus
«Fear and Loathing in Las Vegas» (1998)
Irrer Trip mit Johnny Depp
Die Adaption von Hunter S. Thompsons surrealem Roman «Angst und Schrecken in Las Vegas» stammt aus einer Zeit, da Johnny Depp vor allem noch Schlagzeilen wegen seiner schauspielerischen Bravourleistungen machte. Private Eskapaden gab es schon damals. Immer wieder gelang es dem Vollblutdarsteller jedoch, das Publikum mit seinen Auftritten in eher unkonventionellen Rollen in den Bann zu ziehen.
Wie gemacht für den Querkopf des US-Kinos ist auch der Part des Sportjournalisten Raoul Duke, der zusammen mit seinem Freund und Rechtsanwalt Dr. Gonzo (Benicio del Toro) von Los Angeles nach Las Vegas fährt, um dort über ein Sandpistenrennen zu berichten. Eine Reise, die bloss als Aufhänger für einen irren Drogentrip fungiert. Plottechnisch mag hier nicht viel rumkommen. Unzweifelhaft schleudert uns der für seine bizarren Filmwelten bekannte Terry Gilliam aber in einen vor Fabulierlust überbordenden Bilderreigen, dem Depp in seiner furios-enthemmten Performance in nichts nachsteht. Ganz nebenbei zeichnet «Fear and Loathing in Las Vegas» auch das Bild einer im Kern erschütterten Nation und macht die Desillusionierung der Hippie-Bewegung greifbar.
Verfügbar on Demand auf AppleTV
«The Wolf of Wall Street» (2013)
Der Rausch des Geldes
Auch wenn es an der Börse oft heiss hergeht, fällt es schwer, sich in diesem Umfeld einen Film vorzustellen, der permanent mit dem Fuss auf dem Gaspedal steht. Altmeister Martin Scorsese gelingt aber genau das. «The Wolf of Wall Street» schildert den Aufstieg und den Fall des real existierenden Ex-Finanzmaklers Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio), der sein Leben in Saus und Braus auf betrügerischen Machenschaften aufbaute.
Schnittlawinen, wilde Partybilder, hemmungslose Orgien und ein inbrünstig aufspielender Hauptdarsteller machen aus diesem satirischen, dreistündigen Biopic einen Trip in die Abgründe der Wall-Street-Welt. Beispielhaft für den ganzen Film ist einer der wohl verrücktesten Drogenabstürze, die es jemals in einer Hollywood-Produktion zu sehen gab. Eigentlich hätte DiCaprio schon dafür, wie er sich in dieser Sequenz mit Haut und Haar dem Wahnsinn seiner Figur verschreibt, einen Oscar verdient. Was Scorsese betrifft: Chapeau! Wüsste man es nicht besser, würde man nie auf die Idee kommen, dass bei all dem hochtourigen Irrsinn ein knapp 70-jähriger Regisseur die Zügel in der Hand hielt.
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«T2 Trainspotting» (2017)
Fortsetzung des Kultfilms
Mit der Romanadaption «Trainspotting» schuf Danny Boyle einen der berauschendsten und provokantesten Spielfilme der 1990er-Jahre. Die Drogenerfahrungen des Heroin-Junkies Mark Renton (Ewan McGregor) und seiner Freunde fliegen kaleidoskopartig an uns vorbei und entziehen sich einer didaktischen Aufbereitung.
Das 20 Jahre später spielende Sequel lässt die alten, vom Leben desillusionierten Kumpel noch einmal in Edinburgh zusammenkommen und schlägt, da die Protagonisten älter und müder geworden sind, ein nicht mehr ganz so hohes Tempo an. Nostalgie bricht immer wieder durch. Und eine melancholische Stimmung legt sich über die Begegnungen. Einschläfernd ist «T2 Trainspotting» deshalb aber keineswegs. Immer wieder dockt die Fortsetzung in visueller und musikalischer Hinsicht an den kultisch verehrten Vorgänger an, erzielt durch eine markante Farbgebung, exzentrische Kamerawinkel und zackige Schnitte, zumindest phasenweise, eine Sogwirkung.
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«Mother!» (2017)
Albtraum im eigenen Haus
Der Höllenritt, zu dem sich Darren Aronofskys allegorisch aufgeladenes Mystery-Horrordrama «Mother!» auf der Zielgeraden auswächst, ist anfangs nicht zu erahnen. Eine Frau (Jennifer Lawrence) und ihr deutlich älterer Mann (Javier Bardem) leben irgendwo im Nirgendwo und schlagen sich mit Alltagsproblemen herum. Während sie ihrem gemeinsamen Heim nach einem Brand neues Leben einhauchen will, ringt er, ein Autor, mit einer Schreibblockade. Als unangekündigter Besuch vor der Tür steht, spitzt sich die Lage im Haus des Paares langsam zu.
Rauschhafte Züge nimmt der für unterschiedliche Deutungen offene Film erst im letzten Drittel an. Gemessen daran, was man aus stargespickten Studioarbeiten gewöhnt ist, reisst Aronofsky Grenzen auf brachiale Weise ein. Szenen einer Massenhysterie, groteske Gewalteruptionen und eine immer mehr taumelnde, von der Kamera oft aus nächster Nähe eingefangene Protagonistin erzeugen eine albtraumhafte Stimmung. Das alles kann man leidenschaftlich ablehnen. «Mother!» ist dennoch eine jener Leinwandarbeiten, die man so schnell sicher nicht vergisst.
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«Mandy» (2018)
Nicolas Cage im Racherausch
Nicolas Cage ist für seine Over-the-top-Darbietungen berühmt-berüchtigt. Nicht umsonst, wie der Fantasy-Horrorstreifen «Mandy» beweist. Darin spielt der Oscar-Preisträger einen Holzfäller, der nach der brutalen Ermordung seiner Freundin (Andrea Riseborough) Jagd auf den Verantwortlichen, einen wahnsinnigen Sektenguru (Linus Roache), und dessen Gefolge macht.
Seltsam entrückt wirkt das Geschehen von Anfang an. Mit dem Start des Rachefeldzugs entwickelt die Handlung halluzinatorische Züge. Knallige Farbenspiele, sphärische Klänge und ein Star, der plötzlich alle Fesseln abwirft, den ganzen Schmerz seiner Figur in die Welt hinausträgt, sorgen für eine psychedelische Atmosphäre. Wer auf eine ausgeklügelte Erzählung verzichten und sich mit einigen Genreklischees arrangieren kann, sollte diesem von Panos Cosmatos inszenierten Experiment in Sachen Form unbedingt eine Chance geben.
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«Der Rausch» (2020)
Mads Mikkelsen nie nüchtern
Preise räumte die von Thomas Vinterberg inszenierte und mitgeschriebene Tragikomödie «Der Rausch» zahlreiche ab, darunter auch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Völlig zu Recht, muss man sagen, schafft es der dänische Regisseur und Drehbuchautor darin doch, die befreiende Wirkung von Alkohol und seine zerstörerische Seite auf eindringliche Weise zu illustrieren. Herzstück der Handlung ist ein skurriles Experiment, das vier von ihrem Leben frustrierte Lehrer angehen, um endlich wieder kreativer zu sein und den Alltag geniessen zu können. Einer zweifelhaften Theorie folgend, versuchen sie, konstant einen Promillewert von 0,5 % zu halten – auch während der Arbeitszeit.
In dynamisch-ungezügelten Bildern nähern wir uns dem Empfinden der Protagonisten, deren Auftreten immer wieder herrlich komische Züge annimmt. Zum Gelingen tragen auch die formidablen Hauptdarsteller bei, von denen der im Zentrum stehende Mads Mikkelsen für das nuancierte Porträt eines von einer Midlife-Crisis geplagten Mannes eine besondere Erwähnung verdient. Dass auf jede Alkoholekstase ein böser Kater folgt, zeigt «Der Rausch» schonungslos. Erfrischend ist allerdings, wie sich der Film einer Zeigefingerpädagogik verweigert.
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«Soul of a Beast» (2021)
Der Ruf der Wildnis
Sicher ist hier nur, dass nichts sicher ist: Mit «Soul of a Beast» legte der Schweizer Filmemacher Lorenz Merz einen impulsiven Genre-Mix vor, der munter zwischen Sozialdrama, Coming-of-Age-Romanze, Dystopie und Horrortrip hin- und herspringt. Ein junger Vater namens Gabriel (Pedro Caprez) steht hier im Spannungsfeld zwischen der Verantwortung für seinen kleinen Sohn und den Verlockungen einer plötzlich entflammten Liebe zu Corey (Ella Rumpf), der Freundin seines besten Kumpels.
Ein Meskalin-Rausch, wilde Tiere und Tumulte in den Strassen Zürichs, eine ständig bewegte, den Figuren auf die Pelle rückende Handkamera, verzerrte Töne und vor Intensität vibrierende Schauspielleistungen: «Soul of a Beast» – der Titel könnte treffender nicht sein – fährt alles auf, was möglich ist, um uns in den Strudel hineinzuziehen. Dieser Film ist ein Erlebnis für alle Sinne und schiesst die Gesetze der Ratio, besonders im letzten Drittel, lustvoll in den Wind.
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