Review24. Mai 2024

Cannes 2024: «Anora»: Umgekrempelte Stereotype

Cannes 2024: «Anora»: Umgekrempelte Stereotype
© Cannes 2024

Die Trennung in Gut und Böse schafft Struktur. Während viele Filme sich dieser klassischen Typisierung bedienen, gibt es genug Beispiele, die mit diesen Regeln brechen. Die Liste jener Filme erhält mit der Dramedy «Anora», die auf den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes Premiere feiert, einen neuen Beitrag.

Cannes 2024: «Anora»: Umgekrempelte Stereotype

Sean Baker | USA | 138 Min.

von Michael Gasch

Anora, auch bekannt als Ani (Mikey Madison), arbeitet als Tänzerin in einem Stripclub. Eines Tages trifft sie auf den jungen Ivan (Mark Eydelshteyn), den Sohn reicher russischer Oligarchen. Ihre Begegnung führt schnell zu mehr. Kurze Zeit später finden sie sich in Las Vegas wieder und heiraten, was Ivans Eltern alarmiert. Sie beauftragen daraufhin ihre Lakaien, um das Problem aus der Welt zu schaffen.

Die Geschichte mag sich sehr nach einem klassischen Verfolgungsthriller anhören, doch Sean Baker («The Florida Project») wählt für «Anora» andere Ansätze. Waffen kommen in diesem unterhaltsamen Film gar nicht vor; Wut, Gewalt und Destruktivität auch nur begrenzt. Stattdessen werden die Pole der Negativität umgekehrt. Dazu ein Beispiel: Nachdem einem Handlanger die Nase gebrochen wird, reagiert dieser nicht mit einem klassischen Wutausbruch, sondern vielmehr mit Verwunderung. Warum sollte man ihm so etwas Schlimmes antun?

Jener Humor, der sich fortan konstant wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht, bringt frischen Wind in die Darstellung russischer Stereotype. Die Trennung in böse Handlanger und die guten Geliebten wird aufgelöst, es ergibt sich eine viel interessantere Figurenkonstellation. Fast schon pazifistisch entwickelt sich die Geschichte, was sich selbst beim Auftritt des Oligarchen-Ehepaars fortsetzt.

Die Anti-Stereotypisierung wird aber auch auf Mann und Frau übertragen. «Anora» zeichnet auch in dieser Hinsicht neuartige Figurenprofile. «Warum sollte ich dich vergewaltigen?» fragt ein Handlanger beispielsweise an einer Stelle, er wirkt schon fast wie ein unschuldiger Junge, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Mit solch cleveren und unerwarteten Momenten, die alle paar Minuten für Gelächter sorgen, stellt sich «Anora» als einer der besten Filme auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes heraus.

4 von 5 ★

Eine Zusammenstellung aller Texte vom 77. Festival International du Film de Cannes findest du hier.

Das könnte dich auch interessieren:

Is this article worth reading?


Comments 0

You have to sign in to submit comments.

Login & Signup