Article27. März 2024 Cineman Redaktion
Filmwissen: Wunderbar uneitel: Nahaufnahme Olivia Colman
Ein Oscar, drei Golden Globes, vier BAFTA Awards und diverse andere Auszeichnungen – in den letzten zehn Jahren gewann Olivia Colman so gut wie alles, was man als Schauspielerin gewinnen kann. Und doch bleibt die Britin auf dem Teppich, strahlt eine für das Showgeschäft ungewöhnliche Bodenständigkeit aus. Zeit für ein Porträt, pünktlich zum Start ihres neuen Films «Kleine schmutzige Briefe (Wicked Little Letters)».
Anfangs auf Komik festgelegt
Witzig, emotional und vor allem glaubhaft uneitel reagiert Olivia Colman im Februar 2019 auf der Bühne des Dolby Theatre in Los Angeles auf den Gewinn des Oscars für ihre Performance in Yorgos Lanthimos‘ Historienfarce «The Favourite» (2018). Sichtlich überrascht ringt sie nach Worten, verneigt sich vor ihrer Mitnominierten Glenn Close und spult keine einstudierten Gags ab, sondern verzückt mit Spontanität. Eine Dankesrede, für die man sie einfach lieben muss. Und ein Auftritt, der viel über den Menschen Olivia Colman verrät.
1974 als Sarah Caroline Colman geboren, muss die zunächst für ein Lehramtsstudium eingeschriebene, dann aber an die Bristol Old Vic Theatre School wechselnde Britin früh in ihrer Karriere ihren Vornamen wechseln. Da in der Schauspielergewerkschaft bereits eine Sarah Colman existiert, nennt sie sich auf beruflichem Parkett fortan Olivia. Seit ihrer Hochzeit mit Collegebekanntschaft Ed Sinclair im Jahr 2001 heisst sie im Privatleben hingegen Sarah Sinclair.
Die Anfänge ihrer Karriere als professionelle Darstellerin liegen, das mag man bei ihrer heutigen Bandbreite gar nicht glauben, fast ausschliesslich im komischen Bereich. Nachdem sie ihre Ausbildung an der Bristol Old Vic Theatre School 1999 beendet hat, zieht es Colman ins Fernsehen. Unterschiedliche Rollen bekleidet sie etwa in der Sketchshow «Bruiser». Neben «People Like Us» und «Life as We Know It» ist sie 2001 in «The Mitchell and Webb Situation» zu sehen, wo sie mit ihren Studienfreunden David Mitchell und Robert Webb zusammenarbeitet. 2002 kommt eine Episodenrolle in der preisgekrönten Mockumentary «The Office» hinzu.
Dramatische Parts spielt Olivia Colman in ihrer Frühzeit eher selten. Und auch im Kino taucht sie zunächst nur sporadisch auf. Eine der wenigen Leinwandauftritte hat sie in Edgar Wrights Actionkomödie «Hot Fuzz – Zwei abgewichste Profis» (2007). Während sie ihre Fernsehlaufbahn weiter ausbaut, erhöht sich ab ungefähr 2010 die Schlagzahl an Spielfilmen.
Mit «Broadchurch» zum grossen Durchbruch
Gelobt wird sie von der Kritik für ihre Darbietung in «Tyrannosaur» (2011). Das Regiedebüt ihres Kollegen Paddy Considine zeigt Colman als misshandelte Frau, die sich eines Mannes annimmt, der an seinem Leben zu zerbrechen droht. Für ihre unterschiedliche Gefühlsschichten freilegende Performance erhält sie mit dem British Independent Film Award ihre erste grössere Auszeichnung.
Von Bedeutung ist das Drama auch, weil es Colmans Bereitschaft für gesellschaftliches Engagement unterstreicht. Ihre Arbeit an diesem Projekt bringt sie dazu, 2014 die Schirmherrschaft über die Wohltätigkeitsorganisation Tender zu übernehmen, die vor allem Jugendliche durch die Medien Theater und Film für die Themen «Häusliche Gewalt» und «Sexueller Missbrauch» sensibilisieren will. Ein weiteres Feld, über das sie immer wieder spricht, ist das der postpartalen Depression. Eigene Erfahrungen nach der Geburt ihres ersten Kindes teilt sie, um Menschen aufzuklären. Im Gegensatz zu vielen Personen aus dem Showgeschäft nimmt sie selbst zu politisch brisanten Fragen Stellung. So ist ihre Unterschrift im November 2023 unter einem öffentlichen Brief zu finden, der den Umgang kultureller Institutionen der westlichen Welt mit palästinensischen Stimmen und Perspektiven kritisiert.
Zurück zum beruflichen Werdegang: Internationale Bekanntheit erlangt Olivia Colman mit der Krimiserie «Broadchurch», deren erste Staffel 2013 veröffentlicht wird. Als Polizistin eines kleinen Küstenortes muss sie sich hier nicht nur mit dem Mord an einem elfjährigen Jungen herumschlagen, sondern auch mit einem eigenwilligen Kollegen. Eine Rolle, die beweist, wie viel die Britin aus bodenständigen, stinknormalen Figuren herausholen kann. Der Lohn für ihre Leistung: ein völlig verdienter BAFTA-Award.
Wichtig für ihren späteren Oscar-Triumph mit «The Favourite» ist die groteske Dystopie «The Lobster» (2015), bei der sie erstmals unter der Regie des griechischen Autorenfilmers Yorgos Lanthimos agiert. Dass sie bei ihrer Arbeit auch unter erschwerten Bedingungen vollen Einsatz bringt, führt uns die Spionageserie «The Night Manager» (2016) nach John le Carré vor Augen. Hochschwanger steht sie darin vor der Kamera, hinterlässt als Vorgesetzte des titelgebenden Agenten bleibenden Eindruck und darf ihren ersten Golden Globe Award entgegennehmen.
Keine Angst vor widerspenstigen Rollen
In Hollywood kommt Colman endgültig mit «The Favourite» an, einem herrlich bizarren Blick auf das Treiben am englischen Königshof im frühen 18. Jahrhundert. Die real existierende Queen Anne spielt sie mit einer solchen, zwischen Impulsivität und Weinerlichkeit schwankenden Wucht, dass es die Kritiker:innen reihenweise umhaut und Preise – darunter der Oscar, ein Golden Globe und ein weiterer BAFTA Award – regelrecht über sie hereinbrechen. Mit diesem Part bezeugt sie auch, dass sie keine Scheu vor unbequemen, nicht gerade sympathischen Charakteren hat. Wo andere Schauspieler:innen in heldenhaftem Licht erstrahlen wollen, erforscht Olivia Colman gerne die abgründigen Seiten des Menschen.
Auch wenn sie sich dem Kino in den kommenden Jahren noch stärker zuwendet, bleibt sie ihrem Ursprungsmedium, dem Fernsehen, weiter treu. In der viel diskutierten Netflix-Saga «The Crown» verkörpert sie ab 2019 eine zwischen Amtspflichten und Ausbruchssehnsüchten hin- und hergerissene Königin Elizabeth II.. Als Mörderin ist sie wiederum in der von ihrem Ehemann entwickelten schwarzhumorigen True-Crime-Miniserie «Landscapers» (2021) zu sehen. Und die Marvel-Produktion «Secret Invasion» (2023) demonstriert, wie viel Präsenz Colman auch in Nebenrollen zeigen kann. Böser Spott und eine beängstigende Selbstsicherheit umweht ihre dortigen Auftritte als hochrangige britische Agentin.
Die nun startende Krimikomödie «Kleine schmutzige Briefe (Wicked Little Letters)» illustriert exemplarisch, dass Colman nahezu alle Register beherrscht. In der auf Tatsachen beruhenden Geschichte um obszöne Schreiben, die ein Provinznest in den 1920er-Jahren in helle Aufregung versetzen und zu einer Fehde zwischen zwei einst befreundeten Nachbarinnen führen, gibt sie eine verhuschte, fromme Jungfer. Viele Kolleginnen hätten mit dieser wenig einnehmenden Figur wohl ihre liebe Mühe gehabt. Colman aber erschafft ein spannendes, zwischen Biederkeit, Verletzlichkeit und Bosheit changierendes Porträt einer in patriarchalen Strukturen um Anerkennung ringenden Frau. Noch dazu liefert sie sich ein mitreissendes Duell mit Jessie Buckley. All das auf angenehm unprätentiöse Weise!
Ist Colman also wirklich gar nicht eitel? Ein klitzekleines bisschen vielleicht schon, wie sie 2019 im Podcast ihres «Broadchurch»-Kollegen David Tennant verrät. Da ihr Alter bei Wikipedia lange Zeit um acht Jahre zu hoch angegeben ist, wendet sie sich irgendwann an die Wissensplattform, tut so, als sei sie eine Schulkameradin ihrer selbst, und weist auf den Fehler hin. Als sie keine Antwort erhält, gibt sie ihre wahre Identität preis und geht schliesslich als Siegerin aus der kleinen "Auseinandersetzung" hervor. In ihrer Absurdität macht diese Anekdote Olivia Colman gleich wieder sympathisch.
«Kleine schmutzige Briefe (Wicked Little Letters)» ist ab dem 28. März 2024 in den Deutschschweizer Kinos zu sehen.
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