Gaspar Noé offenbart in seinem neuesten Werk «Vortex» die oft verdrängte Realität des Alterns. Bei einem persönlichen Gespräch ging der Argentinier auf sein filmisches Werk und die Arbeit dahinter ein und verriet uns, wie er mit einem dreiseitigen Skript einen kompletten Film auf die Beine stellen konnte.
Interview in Originalsprache (Englisch) von Ben Lupini
Transkription von Zoë Bayer
«Vortex» zeigt die letzten Wochen im Leben eines achtzigjährigen Pariser Ehepaars: Sie (Francoise Lebrun), die an Alzheimer erkrankt ist, irrt in ihrem Kopf und den Strassen umher, während er (Dario Argento) versucht, sein Buch über Träume im Kino fertig zu schreiben. Dank der Fürsorge für seine Frau verdrängt er gekonnt sein eigenes Altern und kann dabei die Lösungsvorschläge seines Sohnes (Alex Lutz) nicht annehmen, was ihm zum Verhängnis wird.
Gaspar Noé über die Produktion:
Ich hatte das Glück, dass ich Produzenten habe, die mir sagten, «Das ist dein Film!»
Es ist schwierig eine Finanzierung für erste Filme ohne Drehbuch zu finden, denn im Januar 2021 hatte ich gerade erst zehn Seiten für diesen Film geschrieben, aber meine Produzenten meinten «Mit nur drei Figuren, kannst du ihn in vier Wochen drehen. Wir zahlen dafür und finden jemanden, der den Film kaufen will».
Um eine Finanzierung für einen Film ohne Drehbuch zu bekommen, braucht man etwas Vertrauen. Ich hatte zum Glück Produzenten, die etwas Geld in der Tasche hatten und die mir vertrauen. Der ganze Prozess, den Film zu schreiben, ihn zu drehen, zu schneiden und abzuliefern, hat mindestens sechs Monate gedauert. Selbst ein Baby braucht 9 Monate, um auf die Welt zu kommen, es ging also extrem schnell, und ich arbeite gerne schnell. Wenn man einen Film in so kurzer Zeit fertigstellt, ist das eine unglaubliche Sache, dabei dauert manchmal der Vertrieb des Films und die Promotion viel länger als der ganze kreative Prozess selbst.
...deshalb sagen mir auch viele Leute: «Dein Film fühlt sich wie ein Dokumentarfilm an», weil das Schauspiel sehr frei und natürlich ist.
Auf den Dreharbeiten mit nur einer Script Seite:
Auf dem Filmset haben wir nur mit dem einzigen schriftlichen Papier gedreht, das wir hatten, es war drei Seiten lang, also hatten wir die 12 Szenen der Probe auf eine Viertelseite geschrieben. Und dann haben wir am Set die Szene mit den Schauspielern entwickelt. Ich habe die Kamera bei den Proben bedient, denn es ist wie eine kollektive Szene, die man am besten mit seinen Ideen und den Ideen vom Kameramann, den Schauspielern und auch dem Regieassistenten macht. Ich fühle mich also sicherer, wenn ich es auf diese Weise mache. Ich würde mich nicht sicher fühlen, wenn ich an ein Set mit geschriebenen Dialogen ginge, die ich mit meinem eigenen Vokabular kreiert habe, das nicht besonders ist, weil ich zum Beispiel nicht vier Sprechweisen für verschiedene Figuren erfinden könnte.
In meinem Fall finde ich es viel einfacher, die Leute in ihren eigenen Worten und mit ihrer eigene Körpersprache vor der Kamera sprechen zu lassen, und deshalb sagen mir auch viele Leute: «Dein Film fühlt sich wie ein Dokumentarfilm an», weil das Schauspiel sehr frei und natürlich ist, so dass man, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist, wenn man einen Film mit geschriebenen Dialogen ansieht, erkennen kann, dass die Schauspieler etwas wiedergeben, und das ist nicht so fliessend, wie es ist, wenn Leute Szenen vor der Kamera kreieren.
Entscheidungen in der Bildgestaltung und der persönliche Bezug:
Bei «Vortex» wollte ich mit dem Split-Screen spielerischer umgehen, mit dem schwarzen Rahmen. Wir drehten eine Szene am ersten Tag mit einer einzigen Kamera und eine andere Szene mit zwei Kameras. Am nächsten Morgen, als ich mir das Material des ersten Drehtages ansah, sah ich, dass es eigentlich viel lustiger ist, mit zwei Szenen zu arbeiten. Wir drehten sie mit zwei Kameras und von da an beschloss ich, dass ich, auch wenn ich einige Szenen nur mit einer Kamera haben möchte, sie mit zwei Kameras drehen würde, falls ich doch den Split-Screen vom Anfang bis zum Ende beibehalten möchte, und jetzt war es eine gute Idee, auch weil es klaustrophobischer wirkt.
Als ich meine Mutter sterben sah, war das für mich schmerzhaft aber ich habe es nicht als schlechte Lösung angesehen, es fühlte sich natürlich an.
Der Film ist nicht autobiografisch. Ich habe zum Beispiel keine Kinder, ich habe eine Schwester, aber ich habe mich trotzdem sehr mit der Figur von Francoise Lebrun verbunden gefühlt, weil ich in einer ähnlichen Situation mit meiner Mutter war und auch, weil ich selbst vor zwei Jahren einen Hirnschaden hatte und die selben Folgen davon hätte tragen können, was zum Glück aber nicht der Fall war.
Ich denke der Tod kann auch ein positivster Ausweg aus einer körperlicher Dekadenz oder geistiger Erschöpfung heraus sein. Als ich zum Beispiel meine Mutter sterben sah, war das für mich schmerzhaft aber ich habe es nicht als schlechte Lösung angesehen, es fühlte sich natürlich an. Ich dachte, es wäre gut, den Tod des Vaters darzustellen, der in meinem wirklichen Leben so nicht passiert ist. Auch, weil die Situation dann noch dramatischer wird, weil er derjenige ist, der sie beschützt, und wenn der Mann, der Beschützer, vor der Frau stirbt.
Auch sagt sie im ganzen Film nie «mein Schatz» zu ihm, aber in dem Moment, in dem er tot ist, fängt sie an ihn zu suchen mit den Worten: «Schatz, wo bist du, Schatz?», das ist eine Art Drama, das man zum Drama hinzufügt, und auch in diesem Fall dachte ich, es wäre gut, dies als etwas Natürliches darzustellen. Nach Tod meiner Mutter hatte ich auch das Gefühl, dass etwas im Raum um mich herum fehlte, daher auch die Idee beim Split-Screen, dass die Hälfte des Bildschirms leer ist, wenn der Charakter stirbt.
Die Identität und der Tod der Wohnung
Viele Leute haben mir gesagt, dass sie nebst den Hauptdarstellern auch die Wohnung als eigene Identität und Persönlichkeit gelesen haben. Am Ende des Films sieht man den Tod der Wohnung, und viele Leute haben mir gesagt, dass dies für sie der dramatischste Moment im ganzen Film gewesen ist, wenn die Wohnung tot ist.
Auch der wiederholte Drogengenkonsum des Sohnes nach dem Verlust seiner Eltern wurde von vielen Leuten als eine Art Identität empfunden und zeigt, was der Tod auf die zurückgebliebenen Angehörigen für eine Auswirkung haben kann.
Das Thema, welches in «Vortex» verhandelt wird ist wichtig, da man sich damit mit seinen Angehörigen möglichst früh unterhalten sollte. Eine wichtige Diskussion, die man beginnen sollte, bevor etwas passiert. Das ist universell, den es passiert in jeder einzelnen Familie, also einfach darüber reden und helfen.
Welche weiteren Filme ab sofort neu im Kino zu sehen sind, erfährst du hier.
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