Lin-Manuel Mirandas brillantes Hip-Hop Musical «Hamilton» kriegt die filmische Adaption, die es verdient. Voller Spannung, Energie und Leidenschaft ist die Filmversion des bahnbrechenden Broadway-Musicals genau das Richtige für unsere vom Virus geschwächten Rebellenherzen.
Kritik von Gaby Tscharner
Alexander Hamilton war über 200 Jahre lang der unbekannteste Gründervater der amerikanischen Revolution. Das Schicksal des in der Karibik geborenen Hamilton, der schon als Teenager zum Waisenjunge wurde, faszinierte Lin-Manuel Miranda, der selber ein Sohn von Immigranten aus Puerto Rico ist, seit er 2004 Ron Chernows Biographie über den Revoluzzer las.
Das Resultat ist eines der bahnbrechendsten Bühnenstücke der amerikanischen Theatergeschichte. Nicht nur hauchte «Hamilton» mit seinen Rap-Nummern und Hip-Hop Einflüssen dem etwas verstaubten Musical-Genre neues Leben ein, es besetzte die Rollen der amerikanischen Gründungsväter absichtlich mit schwarzen Schauspielern, Latinos, Asiaten und anderen People of Color, die zuvor am Broadway nur marginal eine Rolle spielten.
Disneys Filmversion von «Hamilton» ist ein live Mitschnitt des Broadway-Musicals in seiner Originalbesetzung, mit Lin-Manuel Miranda in der Hauptrolle. Die Geschichte folgt Hamiltons Aufstieg, vom bettelarmen Immigranten zum ambitiösen Karrierepolitiker, der im Kabinett von Präsident George Washington (Christopher Jackson) die Leiter erklimmt, sich aber auch mit Rivalen wie Thomas Jefferson (Daveed Diggs) und Aaron Burr (Leslie Odom Jr.) messen muss. Gleichzeitig zeigt das Stück Hamiltons private Seite, seine Beziehungen zu Frauen wie den Schuyler Schwestern Angelica (Renée Elise Goldsberry), Peggy (Jasmine Cephas Jones) und Eliza (Philipa Soo), die er schliesslich heiratet.
Der Film eröffnet uns Blickwinkel, die das Theaterpublikum nie zu sehen bekommt.
Thomas Kail, der schon die Bühnenversion inszenierte, ist als Regisseur für den Film verantwortlich. Anders als z.B. «Grease» oder «West Side Story», deren Verfilmungen nicht auf der Bühne, sondern auf Filmsets inszeniert wurden, bleibt Kail ganz nahe beim Original und filmte die Show auf Brettern des Richard Rogers Theater in New York. Aufgenommen wurden zwei öffentliche Vorstellungen im Jahr 2016, ein Jahr nach der Uraufführung, mit der grossartigen Originalbesetzung, die Stars hervorbrachte wie Daveed Diggs («Blindspotting», «Blackish») oder Philippa Soo, der seither Musicals wie «Amélie» auf den Leib geschrieben werden.
Anschliessend filmte Kail ohne Publikum die Close-Ups auf die Gesichter der Schauspieler, positionierte seine Kameras auf der Bühne in der Mitte des Geschehens und eröffnet uns damit Blickwinkel, die das Theaterpublikum nie zu sehen bekommt. Als Zuschauer des Films ist man so nah dran, dass man die Spucke von König George (Jonathan Groff) sieht, die ihm aus dem Mund schiesst, während er wie ein verschmähter Liebhaber „You’ll Be Back“ singt. Der Film verzichtet auf jegliche Spezialeffekte und lässt die grossartigen Leistungen der Darsteller und innovative Inszenierung des Theaterstücks für sich selber sprechen.
Im Vorfeld der Premiere auf Disney Plus wurde spekuliert, ob der TV-Kanal, der nur familienfreundliche Filme ausstrahlt, das Stück zensurieren würde. Schliesslich handelt es von Liebesdreiecken, Seitensprüngen und Gewalt. Erstaunlicherweise sind Disneys Schere aber nur zwei Flüche zum Opfer gefallen. Ein „Fuck“ wurde aus der Nummer “Yorktown” genommen, und ein anderes wird während Hamiltons Frustrationsausbruch in “Washington On Your Side” ausgeblendet. Miranda empfiehlt den Zuschauern in einem seiner Tweets, die zensurierten Schimpfwörter an den betreffenden Stellen singend wieder einzufügen.
Miranda defibrilliert mit seinem musikalischen Meisterwerk unsere vom Virus geschwächten Rebellenherzen.
Disney hat zwar nicht offiziell bestätigt, dass wir die Heimversion von «Hamilton» dem Corona-Virus zu verdanken haben. Aber bevor das Virus alle live Theatervorstellungen unmöglich gemacht hat, spielte das Musical am Broadway jeden Abend vor ausverkauftem Haus, und die Veröffentlichung der filmischen Adaption war erst für Oktober 2021 im Kino geplant. Disney hat für die Filmrechte von «Hamilton» 75 Millionen Dollar (71 Mio. CHF) bezahlt und scheint davon überzeugt zu sein, diese enorme Summe mit neuen Abos von Disney Plus wieder einspielen zu können.
Am 3. Juli um 9 Uhr morgens Schweizer Zeit explodiert «Hamilton» nun, widerspenstig wie ein vorzeitig losgelassenes Feuerwerk, einen Tag vor dem amerikanischen Nationalfeiertag auf Disney Plus. In einem Vorspann thematisieren Lin-Manuel Miranda und Thomas Kail die Tatsache, dass sich die Bewohner der USA dieser Tage dank dem Black Lives Matter Movement einmal mehr fragen, was es eigentlich bedeutet, Amerikaner zu sein. „Wenn Schauspieler mit brauner und schwarzer Hautfarbe die Entstehungsgeschichte unseres Landes darstellen, nimmt das im heutigen Klima der USA einen ganz neue Stellenwert ein“, gibt Lin-Manuel Miranda zu bedenken und defibrilliert mit seinem musikalischen Meisterwerk unsere vom Virus geschwächten Rebellenherzen.
4.5 von 5 ★
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