Interview20. November 2023 Cineman Redaktion
Interview: Barbara Albert über «Die Mittagsfrau»: «Mir gefällt es, wenn sich ein Film immer tiefer in die Geschichte hineindreht»
«Die Mittagsfrau» erzählt die Geschichte der Jüdin Helene, die in den 1920er-Jahren nach Berlin zieht, um ihr Glück zu finden. Doch als die Stimmung im Land kippt, muss sie schwere Entscheidungen treffen. Anlässlich der Schweizer Premiere des Films trafen wir die Regisseurin Barbara Albert, um mit ihr über die gleichnamige Romanvorlage von Julia Franck, die Auseinandersetzung mit der Geschichte und weibliche Selbstbestimmung zu sprechen.
Interview von Irene Genhart
Erzählt man sich die Geschichte der Mittagsfrau heute noch?
Barbara Albert: Julia Francke hat die Figur für ihren Roman gefunden, ich habe sie davor nicht gekannt. Kann sein, dass sorbische Menschen sie noch kennen; es gibt derzeit eine Wiederbelebung der sorbischen Gemeinden in Deutschland.
Mich hat die Mittagsfrau an diese Begleitfiguren erinnert, welche die Protagonisten in den Disney-Trickfilmen meist haben. Sie hilft, die Geschichte weiterzutragen…
Barbara Albert: Die Geschichte der Frau, die den Menschen auf dem Feld jeweils zur Mittagszeit erscheint, war ursprünglich wahrscheinlich gedacht, um Menschen in der Hitze am Einschlafen zu hindern. Was die Mittagsfrau den Menschen sagt, ist: Erzähl von dir. Du musst über das sprechen, woher du kommst und wer du bist, sonst wirst du verrückt.
Julia Franck hat diese Figur im Roman sehr bewusst verwendet, wir haben sie für den Film neu gedeutet. Es geht darum zu reden. Auch über das, was die Ahnen getan haben, auch über die Schuld. Man muss darüber reden, damit sich diese über die Generationen hinweg auflöst. Dies, wenn einem das möglich ist, auch dann, wenn man Opfer ist.
Sie haben vor einigen Jahren den Film «Die Lebenden» gedreht, der die Geschichte eines SS-Mannes erzählt. Was hat sie an «Der Mittagsfrau» gereizt, der sozusagen von der Gegenseite handelt?
Barbara Albert: In «Die Lebenden» habe ich meine Familiengeschichte abgearbeitet, mein Grossvater war SS-Mann. Durch Julias Roman konnte ich nun die andere Seite beleuchten. Gleichzeitig habe ich im Film in Wilhelm doch noch eine Figur, die im Grunde wie mein Grossvater ist. Für mich war es schön, einmal die andere Seite zu betrachten.
Was hat sie am Roman gereizt?
Barbara Albert: Er ist sehr visuell geschrieben und zudem nah an seiner Protagonistin dran. Im Roman ist Helene übrigens depressiver beschrieben als im Film. Nach dem Verlust der ersten Liebe fällt sie in eine Depression und lässt Dinge mit sich geschehen, die sie sonst vielleicht nicht zugelassen hätte. Im Film ist Helene weniger passiv, wir betonen ihre Selbstermächtigung.
Da liegen Sie mit «Die Mittagsfrau» voll in der Zeit. Es gibt viele neue Filme über Frauen, zum Beispiel die zwei neuen Sisi-Filme, aber auch «Priscilla» und «Marie Antoinette» von Sofia Coppola, die genau das auch machen. Tatsächlich mag es eher ungewöhnlich gewesen sein in der Zeit, dass eine Frau so wie Helene derart genau weiss, was sie will und ihren Weg auch zu gehen versucht.
Barbara Albert: Es gab in den 1920er-Jahren vielleicht mehr Frauen, die so waren wie Helene, als wir denken. In Zuschauerdiskussionen in Deutschland hat oft jemand gesagt, «meine Grossmutter oder Urgrossmutter war auch so, aber dann wurde sie zurückgedrängt ins Private». Der Krieg und die 1950er-Jahre haben die Frauen zurückgedrängt.
Im Krieg kümmerten sie sich zu Hause um die Kinder, die Männer waren an der Front. Fast das Gleiche wiederholt sich heute in der Ukraine. In den 1950ern dann kam der Kapitalismus und die Männer sagten, du musst nicht mehr arbeiten. Und das wenige Arbeiten im Haushalt erleichtern wir dir mit neuen technischen Geräten. Das ist eine fiese Kombination von zwei Systemen, die auf die Frauen eingestürzt sind.
Gab es nach dem 1. Weltkrieg nicht auch das Gegenteil: Frauen, die im Krieg gemerkt haben, dass sie auch ohne Männer zurechtkommen und Dinge können – etwa Pilotin werden oder in technischen Berufen arbeiten – die man davor vor allem den Männern überliess?
Barbara Albert: Das gab es auch, das sogenannte Fräuleinwunder. Die Frauen der 1920er-Jahre waren sehr modern. In Filmen wie «Menschen am Sonntag» sieht man Frauen, die könnten von heute sein. Irgendwie scheinen sich die 1920er-Jahre in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts erschreckend zu spiegeln: Wir leben in Europa derzeit zwar sehr frei und auch der Feminismus erfährt eine Erneuerung.
Gleichzeit aber findet eine Gegenbewegung statt: Es gibt Restriktionen und einen riesigen gesellschaftlichen Rechtsruck. Was mich am Roman und Film übrigens auch interessierte, war die Körperlichkeit und die Intimität und dass der Umgang mit dem Frauenkörper politisch ist: Was darf mein Körper, was muss er können, was muss er aushalten? Die Entscheidung für eine Abtreibung, ein Kind gebären, Gewalt in der Ehe aushalten – das wird im Film alles durchgearbeitet.
Sehr markant ist die Passage, in der das Baby ewig schreit und man im Kinosessel mitleidet. Darf ich den Begriff «Rabenmutter» in den Raum stellen?
Barbara Albert: Es gibt auch «Rabenväter». Aber ja, das Verlassen des Kindes ist noch heute ein grosses Tabu. Das war auch mit ein Grund diesen Film zu machen: Ich wollte genau hinschauen und eine Figur zeigen, deren Handeln ich nicht nachvollziehen kann. Nun ist Helene jahrelang in einem Ausnahmezustand: der Krieg und die Gewaltbeziehung. Trotzdem merkt man, wie wenig man es aushält, mit anzusehen, wie eine Frau geht und ihr Kind alleine zurücklässt. Ich wollte das nicht werten. Ich kann es auch nachvollziehen und sehe Helenes Schmerz: Sie kann nicht anders, als ohne dieses Kind weiter durchs Leben gehen.
Es fällt im Film mehrmals der Begriff «blind im Herzen».
Barbara Albert: Deswegen auch der englische Titel des Films: «Blind at Heart». Diese Blindheit kommt von Helenes Mutter, die den Verlust ihres Gatten und ihrer Söhne nicht verkraftet und deswegen ihre Töchter nicht lieben kann.
Was mir gut gefällt in ihrem Film ist die Liebesgeschichte zwischen Helenes Schwester Martha und Leontine. Und wenn wir schon bei der Schwestern sind: Aufgefallen ist mir die Ähnlichkeit von Mala Emde, die Helene spielt und Liliane Amuat, die Martha spielt. Die beiden Schwestern sind im Film – anders als im Roman – fast gleich alt.
Barbara Albert: Wir haben die Beziehung der beiden im Film emotionaler dargestellt, weil wir eine für Helene positive Bezugsfigur wollten. Und dann wollten wir im Film auch das Verschwinden dieser jüdischen Schwester zeigen, die Trauer um all die verschwundenen Menschen.
Es verschwinden ja tatsächlich viele Menschen aus diesem Film und Helenes Leben. Die Brüder, der Vater, Helenes erste Liebe, die Mutter, die Schwester, die Nachbarin. Obwohl es viel Trauriges im Film hat, wirkt er nicht unbedingt traurig.
Barbara Albert: Er hat ja auch Heiteres darin: Die Jahre in Berlin. Gleichgeschlechtliche Liebe, die man offen leben und zeigen darf. Erst allmählich wird es enger. Und irgendwann ist Helene so wie die Frauen rundherum, die man nur aus den Fenstern schauen sieht, in der Wohnung in Stettin wie gefangen. Mir gefällt es, wenn sich ein Film in die Geschichte immer tiefer hinein dreht und ich hoffe, dass der Zuschauer und die Zuschauerin Helene in diese Zeit hinein begleiten mag.
Es war und ist ja auch einfach eine Realität, dass man sich an das Schreckliche gewöhnt. Ich finde das im Film sehr schön dargestellt, auch das Erdulden. Ich möchte nochmals auf die vorhin erwähnte Enge zurückkommen. Ihr Film spielt zu grossen Teilen in Innenräumen.
Barbara Albert: Es war uns ein Anliegen, keinen Film mit grosser Nazi-Show, Aufmärschen, Flaggen usw. zu machen, sondern das private Gefühl darum herum darzustellen; wie die Menschen in diese Zeit hineinrutschen und wie alles "normal" wird. Gedreht haben wir zum Teil im Studio der Bavaria in München, wo auch das Haus in Stettin stand. Der Dreh im Studio war auch für die intimen Szenen und Sexszenen wichtig. Man kann da im geschützten Raum sehr konzentriert arbeiten.
Sie haben mit dem Schweizer Kameramann Filip Zumbrunn gearbeitet.
Barbara Albert: Die Produzentin Anne Walser hat mich mit ihm bekannt gemacht und ich war sehr glücklich mit ihm. Auch Arnold Bucher, der Regieassistent, ist aus der Schweiz und die Cutterin Sophie Blöchlinger, der Maskenbildner Ronald Frahm – und einige mehr.
Es war nicht das erste Mal, dass sie mit der Schweiz co-produziert haben.
Barbara Albert: Ja genau, bereits «Nordrand» war eine Co-Produktion mit der Schweiz.
Es gibt in «Die Mittagsfrau» aber auch Landschaftsaufnahmen. Wo sind diese her?
Barbara Albert: Die Szenen in Bautzen haben wir in Luxemburg gedreht. Luxemburg war der dritte Geldgeber.
Ah, das erklärt, wieso ich nichts erkannt habe im Film, ich kenne Berlin und die Umgebung ja doch relativ gut. Können wir noch über die Hauptdarstellerin Mala Emde sprechen?
Barbara Albert: Wir haben Mala klassisch gecastet. Aber ich habe sie davor in «Und morgen die ganze Welt» gesehen. Schon da trägt sie den ganzen Film, obwohl das nicht einfach ist als einzelne Person, besonders nicht als junge Schauspielerin. Aber ich habe ihr das zugetraut, sie hat für ihr Alter auch schon sehr viel Erfahrung. An Mala fasziniert mich, dass sie schwer einzuordnen ist und man viel in sie hineinprojizieren kann. Abgesehen davon ist sie eine Schauspielerin, die sehr gut vorbereitet ist, präzise arbeitet und viel Verständnis für ihre Figur entwickelt.
Helene ist am Ende des Filmes gegen fünfzig. Sie sieht aber nicht ganz so alt aus, sondern hat etwas Zeitloses an sich.
Barbara Albert: Sie ist aber schon auf älter geschminkt. Aber so, dass sie transparent bleibt und man ihre Gefühle noch sieht. Es geht im Film ja nicht darum zu zeigen, wie sie alt wird, sondern dass sie etwas erlebt hat und immer noch etwas erleben möchte … Deswegen war mir auch die Konfrontation zwischen Mutter und Sohn am Ende so wichtig.
«Die Mittagsfrau» ist seit dem 16. November 2023 im Kino zu sehen.
Ein Interview mit der Schweizer Schauspielerin Liliane Amuat, die in «Die Mittagsfrau» die Rolle der Partygängerin Martha übernimmt, gibt es bei IMAGIQUE.
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