Interview11. September 2024 Cineman Redaktion
Klaudia Reynicke über «Reinas»: «Ich wollte von der Intensität des Aufbruchs erzählen»
Eine Mutter bereitet sich darauf vor, Peru in Richtung USA zu verlassen. Die schweizerisch-peruanische Filmemacherin Klaudia Reynicke verbindet die Geschichte ihrer Familie mit der ihres Heimatlandes. Wir trafen sie im Februar am Rande der Berliner Filmfestspiele und sprachen mit ihr über ihren zutiefst berührenden Film «Reinas».
Interview und Text von Théo Metais; übersetzt aus dem Französischen
1992 befindet sich Peru in einer tiefen Rezession und die Aufstandsorganisation Leuchtender Pfad richtet verheerende Schäden an. Angesichts dieser instabilen politischen Lage beschliesst Elena (Jimena Lindo), mit ihren beiden kleinen Töchtern umzuziehen. Sie will nach Minneapolis, wo sie gerade einen neuen Job bekommen hat. Um das Land verlassen zu können, braucht sie die Zustimmung ihres Ex-Partners Carlos (Gonzalo Molina).
Drei Wochen vor der Abreise taucht der Mann, der für die Kinder mittlerweile ein Fremder ist, wieder auf. Er scheint die Beziehung zu seinen Töchtern wieder aufnehmen zu wollen. Langsam und mühsam erwachen die Familienbande in einem letzten Aufblitzen zu neuem Leben. Am Steuer seines Taxis, im Wissen um seine früheren Ungeschicklichkeiten und die Last dieses überstürzten Aufbruchs, begegnet der Vater seinen Töchtern und die Töchter ihrem Vater. Unter dem misstrauischen Blick der Grossmutter (Susi Sánchez) lässt die Unterschrift jedoch auf sich warten...
«Ich wollte unbedingt über diese Familie und die Liebe sprechen», sagt Klaudia Reynicke. «Liebe ist für sie kompliziert. Wie kann eine Familie, die einmal eine Familie war, aber nicht mehr wirklich eine ist, wieder zusammenkommen, bevor sie sich wieder trennt? Eigentlich ist das eine sehr einfache Idee, aber gleichzeitig auch sehr komplex. Es gibt viele Bedeutungen.»
Um ihre Geschichte zu erzählen, bettet die Filmemacherin ihre Erzählung in die Geschichte Perus in den 90er-Jahren unter Präsident Alberto Fujimori ein. Ein brisanter politischer Kontext, wirtschaftliche Rezession und soziale Instabilität: Diese Themen werden im Film veranschaulicht und haben enormes Gewicht für die Entscheidungen der Protagonist:innen.
«Peru hat historisch gesehen noch nie eine so heftige Episode erlebt. Sie dauerte fast 20 Jahre. Es war wichtig für mich, darüber zu sprechen, da ich Peru genau zu dieser Zeit verlassen habe. Ich wollte als Erwachsene wieder mit meiner Heimat in Verbindung treten und in gewisser Weise auch mit diesem Kapitel abschliessen. Ausserdem wiederholen sich diese Geschichten, sei es in Lateinamerika, aber auch in Afrika. Das macht die Geschichte sehr zeitgemäss. Abgesehen davon wollte ich keinen Film über Einwanderung machen, sondern von der Intensität des Aufbruchs erzählen. Es ist psychologisch sehr schwer. Der Kopf ist bereits dort. Der Körper ist in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist ein Konflikt zwischen diesen beiden Entitäten. Dieser Kontext ist eigentlich der Antagonist des Films“.
Wie so oft bei erstklassigen Erzählungen wird auch «Reinas» auf Augenhöhe mit den Kindern erzählt. Luana Vega spielt Aurora und Abril Gjurinovic die Figur der jüngeren Schwester Lucía. Die fantastischen Leistungen der beiden Schauspielerinnen – die eine begeistert von der Idee, ihren Vater wiederzusehen, die andere eher vorsichtig – ermöglichen es besonders gut, uns in dieser Geschichte mit widersprüchlichen Emotionen zurechtzufinden, die sich in einem charmanten Dialog über die Kindheit gegenseitig bekämpfen. Klaudia Reynicke erzählt uns davon.
«Ich bin mit 10 Jahren weggegangen und danach mit 14 Jahren nach Peru zurückgekehrt, das sind die beiden Altersstufen, an die ich mich erinnere und die mich sehr geprägt haben. Als ich zehn Jahre alt war, war mir das Umfeld, die anderen Menschen, alles egal. Alles, was ich wollte, war meine Mutter, meine Eltern. Danach wollte ich nur noch mit meinen Cousinen feiern. Ich war völlig auf etwas anderes fixiert, obwohl der Kontext immer noch derselbe war. Die beiden Figuren leben in zwei verschiedenen Welten. Diese Dualität war wirklich mit etwas verbunden, das ich erlebt habe.»
Der Schauspieler Gonzalo Molina fährt mit seinem kultigen roten Lada seine Töchter an den Strand und spricht offen mit jedem, der ihm zuhört. Er behauptet, er sei Schauspieler, Geheimagent, Sicherheitsunternehmer und spricht angeblich Quechua. Es wird viel geredet und vielleicht auch ein bisschen gelogen. Und was ist mit der Wahrheit? Egal, Klaudia Reynicke lädt uns ein, ein Mindset der Unschuld anzunehmen. Der Schauspieler wird zu einem erzählerischen Werkzeug, das es uns ermöglicht, durch die vielfältigen Landschaften Limas in den 90er-Jahren zu reisen. Die Kulissen wurden auf der Grundlage eines Dokumentarfilms nachgebildet.
«Es gibt Leute, die sagen mir, dass ich bei den Ladas und Käfern ein wenig übertrieben habe. Ich sage ihnen, sie sollen auf YouTube gehen und sich ein paar Minuten des Dokumentarfilms «Métal et mélancolie» von Heddy Honigmann ansehen, von dem ich viele Szenen übernommen habe. Es ist ein Dokumentarfilm, der in den 90er-Jahren gedreht wurde. Sie stammt aus Peru. Sie ist heute (Anm. d. Red.: 2022) verstorben und da es keine Arbeit mehr gab, arbeiteten alle als Taxifahrer. Also setzte sie sich in den Wagen der Taxifahrer. Und das ist der Dokumentarfilm. Die Ladas, die Käfer, die Autos hatten ihre eigene Identität. Es schien mir, dass Carlos mehr ein Lada war (lacht) und Elena mehr ein Käfer.»
Wir konnten dieses Interview selbstverständlich nicht abschliessen, ohne über die grossartige spanische Schauspielerin Susi Sánchez zu sprechen. Im Kino ist sie bekannt für ihre Rollen bei Ramón Salazar («La Maladie du dimanche» brachte ihr 2019 den Goya-Preis als beste Schauspielerin ein), Vicente Aranda oder auch Pedro Almodóvar («Die Haut in der ich wohne»). Klaudia Reynicke, ein begeisterter Fan, konnte es an dem Tag, an dem sie die Zusage erhielt, gar nicht fassen.
«Ich hatte sie schon sehr früh im Projekt für die Rolle der Grossmutter vorgesehen. Sie kam drei Tage nach Lima, nachdem sie ihren zweiten Goya gewonnen hatte (Anm. d. Red.: für «Lullaby» von Alauda Ruiz de Azúa). Sie ist die bescheidenste, ruhigste und unkomplizierteste Person. Sie ist einfach unglaublich. Sie kam danach nach Lugano, um die Stimmaufnahmen zu machen. Sie hat bei mir zu Hause Fondue gegessen. Sie ist eine extrem bescheidene Person und so grosszügig. Es war wunderbar, mit ihr zu arbeiten.»
«Reinas» ist seit dem 5. September im Kino zu sehen.
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