Interview17. September 2024

Ramon und Silvan Zürcher über «Der Spatz im Kamin»: «Trauma ist oftmals unsichtbar»

Ramon und Silvan Zürcher über «Der Spatz im Kamin»: «Trauma ist oftmals unsichtbar»
© Locarno Film Festival / Ti-Press

Nun ist er da, der dritte Teil der Trilogie der Zwillinge Silvan und Ramon Zürcher. Wir trafen das Filmduo, das ursprünglich aus Aarberg stammt, in Locarno und sprachen mit ihnen über «Der Spatz im Kamin», Einblicke in toxische Familienbeziehungen und was ihre Trilogie verbindet.

Interview von Walter Rohrbach

Karen lebt mit Markus und ihren drei Kindern in einem prächtigen Haus im ländlichen Nirgendwo – doch die Idylle trügt. Der Geburtstag von Markus steht an, für den Karens Schwester Jule mit ihrer Familie angereist ist. Mitgebracht hat Jule aber nicht nur Geschenke für Markus, sondern auch einen schwer lastenden Rucksack von traumatischen Kindheitserinnerungen.

«Der Spatz im Kamin» ist der letzte Teil der Trilogie der Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher. Beim dritten Teil hat Ramon Regie geführt und Silvan hat den Film produziert. Bereits die beiden früheren Teile «Das merkwürdige Kätzchen» aus 2013 und «Das Mädchen und die Spinne» aus 2021 waren erfolgreiche Festivalfilme und adressierten menschliche Beziehungen.

Szene aus «Der Spatz im Kamin» © Filmcoopi

Cineman: Ramon und Silvan, könnt ihr etwas über die spezielle Konstellation als Zwillingsbrüder erzählen und wie dadurch die Zusammenarbeit ist? Ist diese Konstellation für euch auch speziell oder ist diese immer wiederkehrende Frage komisch für euch?

Ramon Zürcher: Da wir nichts anderes gewohnt sind, ist es für uns das Normalste der Welt. Durch das Zwillingsdasein ist die Gefahr der Symbiose natürlich gegeben und dadurch sind gewisse Fragen umso essenzieller: Was macht man zusammen, was getrennt? Wer ist bei welchen Arbeitsprozessen im Cockpit und hat die Verantwortung? Wer assistiert eher oder gibt Feedback? Bei uns ist diese Verteilung wichtig, damit es keine Verantwortungsdiffusion gibt.

Silvan Zürcher: Das ist nun unser dritter Film und es gibt kein Standardrezept. Wir schauen bei jedem Projekt aufs Neue, wie wir uns aufteilen. Also ob wir eine Co-Regie machen, ob wir als Co-Autoren fungieren oder ob wir die Sachen klar trennen. Wie Ramon bereits angesprochen hat, ist gerade die Trennung der Arbeitsprozesse eine Erkenntnis, die sich als produktiv erwiesen hat und es wird auch für die nächsten Filme so sein, dass wir dann wieder neu schauen müssen, wie wir uns aufteilen wollen.

Könntet ihr euch vorstellen, einen Film alleine zu machen? Oder ist das eine Symbiose, die ihr braucht und von der ihr gemeinsam profitiert?

Silvan Zürcher: Ich würde nicht sagen, dass es eine Symbiose ist. Es könnte eine sein, wenn wir z.B. zusammen wohnen würden und dann das Trennende nicht mehr zulassen würden. Aber bei uns ist es inzwischen so, dass wir das Trennende sehr wohl und gerne zulassen, da wir die Erfahrung gemacht haben, dass es sehr fruchtbar ist.

Und darum kann es sein, dass Ramon ein Drehbuch schreibt, das von einer anderen Produktionsfirma umgesetzt wird, es aber sicher weiterhin schätzen würde, wenn er auch von mir Feedback bekommt. Sowohl beim Drehbuchschreiben als auch bei anderen künstlerischen Entscheidungen wird es sicher immer ein Miteinander geben. Aber wenn jetzt jemand eine externe Produktionsfirma wählen würde, wäre das keine rote Linie, welche unsere Beziehung massiv gefährden würde.

Szene aus «Der Spatz im Kamin» © Filmcoopi

«Der Spatz im Kamin» ist der dritte Teil einer Trilogie: Wo seht ihr die Verknüpfungen zwischen den drei Filmen? In einem Interview habe ich gelesen, dass es immer um das menschliche Zusammensein geht, also um Konflikte und Beziehungen. Ist das aus eurer Sicht das Wesentliche?

Ramon Zürcher: Es gibt auf der formalen Ebene offensichtlich verbindende Elemente. Alle drei Filme sind Echtzeit-Erzählungen mit nur wenigen Zeitsprüngen, die grösstenteils in Wohnungen bzw. einem Haus spielen, also ein kammerspielartiges Setting haben, ähnlich wie viele Theaterstücke. Das ist das Offensichtlichste.

Daneben ist der thematische Kern, wie du es angesprochen hast, das menschliche Zusammensein. Der Fokus liegt auf dem Psychologischen, vor allem in familiären Situationen. Im Kern der drei Filme steht jeweils eine Hauptfigur, die ein Begehren hat oder eine Sehnsucht nach einem anderen Leben. Ihr Leben hat etwas Festgefahrenes und “Gefängnishaftes” und es gibt eine Sehnsucht nach Bewegung, nach Ausbruch und nach etwas anderem.

Silvan Zürcher: Ausserdem haben die drei Filme, neben den angesprochenen familiären Situationen, das Thema Statik und Bewegung gemein. Die Trilogie ist eine Reise von der Statik hin zu mehr Bewegung. Der erste Film «Das merkwürdige Kätzchen» war das Porträt eines statischen Familienkörpers. Im letzten Film ist viel mehr Bewegung dazugekommen. Auf formaler Ebene wurde die Kamera aus der Statik befreit, indem Kamerabewegungen zugelassen werden.

Ebenso macht auch die Hauptfigur Karen im Film diese Reise durch: Von einer anfangs in ihrer Härte erstarrten Figur, wird sie durch die Dinge, die auf sie einwirken, von der harten Kruste befreit, so dass ihr weicher Kern enthüllt wird. Und damit wird Bewegung bei ihr, aber auch bei der Kamera, möglich. Für uns hält auch dieser Aspekt die Trilogie zusammen: Also eine Reise von der Starrheit, die im ersten Film noch nicht gelöst ist, zum Porträt einer Figur, die eine Befreiung erfährt. Obwohl es kein eindeutiges Happy End sein mag, ist es insgesamt eine Reise der Befreiung.

Szene aus «Der Spatz im Kamin» © Filmcoopi

Auch eure Trilogie kann man als Reise bezeichnen – eine ziemlich lange sogar. War das beim ersten Film schon klar, dass es eine Trilogie geben wird?

Ramon Zürcher: Nein, die Idee der Trilogie war tatsächlich erst nach der Auswertung des ersten Films aufgekommen. Den ersten Film haben wir 2011 gedreht und dann 2013 ausgewertet. 2014 hat Silvan begonnen «Das Mädchen und die Spinne» zu schreiben und ich «Der Spatz im Kamin». Da haben wir gemerkt, dass das zusammengehörende Filme sind und dass wir sie als Trilogie denken wollen.

Ein wichtiges Thema des Filmes sind Traumata und psychische Belastungen der porträtierten Personen und wie diese weitergegeben werden. Seht ihr das auch als wichtigstes Element des Films und wieso interessiert euch das Thema?

Ramon Zürcher: Es gibt den Begriff «transgenerationale Traumata» und das ist tatsächlich eines der essenziellen Bestandteile des Films. Vor allem wird dies an der Vergangenheit mit der Grossmutter ersichtlich. Es geht darum, dass im Laufe der Handlung die Vergangenheit immer sichtbarer wird. Und dass die verstorbene omnipräsente Grossmutter immer greifbarer wird. Die Befreiungsgeschichte hat auch mit der Aufdeckung dieser Vergangenheit zu tun. Ein Trauma ist oftmals unsichtbar und unbenannt, wie eine unsichtbare dunkle Wolke.

Uns hat dabei nicht so sehr interessiert, wie das realistisch aufgelöst werden kann, sondern vielmehr wie sich die Figuren auf wundersame, beinahe märchenhafte Weise von der Last der Vergangenheit befreien können und so ein neuer Nährboden geschaffen wird, auf dem ein anderes, nicht-toxisches Miteinander möglich sein kann. Wie du es gesagt hast, können Traumata auch weitergegeben werden. Es gibt das Bild der toxischen Gene, die weiterwandern, indem sich gewisse Dinge genetisch einschreiben. Uns interessiert dabei die Frage, wie eine Befreiung gelingen kann, wenn man mit Vorbelastungen dieser Art konfrontiert ist. Oder noch bildlicher und auf den Film bezogen ausgedrückt: Wie kann man sich von so einer Last befreien und zu einem fliegenden Spatzen werden?

«Der Spatz im Kamin» ist ab dem 19. September im Kino zu sehen.

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