Article29. Januar 2024 Cineman Redaktion
Sundance Film Festival 2024: Filme übers Erwachsenwerden
Eine neue Ausgabe des Sundance-Filmfestivals ist zu Ende gegangen. Vom 18. bis 28. Januar feierten Filme aus aller Welt im US-Bundesstaat Utah ihre Premiere. Die erzählten Geschichten waren vielfältig. Viele von ihnen begleiteten junge Protagonist:innen bei ihrer Suche nach einem eigenen Platz in der Gesellschaft. Wir haben einige Highlights für dich!
von Teresa Vena
Einmal mehr macht das Festival seinem Ruhm alle Ehre. Das Thema des Erwachsenwerdens in all seinen Facetten war in den präsentierten Filmen vorherrschend. Dank der vielfältigen Herkunftsländer der Werke konnte man in verschiedene Kontinente und soziale Realitäten reisen. So begab man sich in einem Moment nach Südamerika (wie mit dem Film der Schweizerin Klaudia Reynicke «Reinas» ins Peru der 1990er Jahre), wanderte nach Japan und Australien, kam dann nach einem Abstecher über Österreich und Grossbritannien wieder zurück in die USA.
Die Geschichten waren insgesamt sehr bewegend, das Programm dieses Jahres war eher düster. Oft ging es um junge Menschen, die mit den strengen Regeln ihres Umfelds kämpfen und sich als Aussenseiter fühlen. Für manche geht es gut aus, bei den meisten allerdings bleibt ein offenes Ende – genauso wie im wahren Leben.
«Sujo» – Bester internationaler Spielfilm
Astrid Rondero, Fernanda Valadez | Mexiko, Frankreich, USA, 2024, 125 min.
Sujo (Juan Jesús Varela) ist als vierjähriges Kind nur knapp der Rache des Drogenkartells entgangen. Damit er nicht wie sein Vater ermordet wird, zieht sich seine Tante mit ihm in eine abgelegene Gegend zurück. Als Jugendlicher gerät Sujo aber mit seinen Cousins dennoch in Schwierigkeiten. Um sich zu retten, muss er in die Stadt ziehen.
Aus Mexiko kommen oft ähnliche Filmgeschichten: Korruption und Drogenhandel dominieren die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes. Junge Menschen haben oft keine grossen Zukunftsperspektiven und geraten in die Spirale der Gewalt. Manchmal wagt man sich hoffnungsvolle Enden zu erzählen, wie das letztes Jahr Christopher Zalla mit «Radical» getan hat. Auch die beiden Regisseurinnen Astrid Rondero und Fernanda Valadez von «Sujo» öffnen am Schluss für ihren Protagonisten die Tür einen kleinen Spalt weit.
Doch insgesamt überwiegt das Düstere. Der Film fühlt sich wie eine pulsierende, offene Wunde an. Wie bereits in ihrem Vorgängerfilm «Was geschah mit Bus 607?» ist auch in «Sujo» eine tiefe Ohnmacht und Trauer, aber auch ein starker Überlebenswille spürbar. Die Kamera bleibt auf sicherer Distanz zu den Figuren, die Bilder sind in kalte Blau- und Grautöne getaucht. Umso heftiger hebt sich davon das Feuer in den Gesichtern der Charaktere ab.
4 von 5 ★
«In the Summers» – Bester US-amerikanischer Spielfilm
Alessandra Lacorazza Samudio | USA, 2024, 95 min.
Über vier Sommer hinweg besuchen die Schwestern Violeta und Eva ihren Vater (Residente). Ihre Eltern haben sich, als die beiden Mädchen Kinder waren, scheiden lassen und wohnen in verschiedenen Bundesstaaten. Die Schwestern, die im Laufe des Films zu jungen Frauen heranwachsen, haben ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Vater.
In Alessandra Lacorazza Samudios Familiendrama geht es nicht um eine Abrechnung, es geht vielmehr um eine Versöhnung und ums Erwachsenwerden. Natürlich beeinflusst das Verhältnis zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes. Doch Eltern sind nicht unfehlbar und damit muss man sich, einmal selbst erwachsen, unweigerlich auseinandersetzen. Das versucht dieses leise Drama. Aufgeteilt in vier Kapitel erzählt der Film, ohne reisserisch zu sein, von einer komplexen Vaterfigur. Verkörpert wird sie vom US-amerikanischen Regisseur und Schauspieler Residente mit lateinamerikanischen Wurzeln. Es gelingt ihm, seiner Figur durch seine rein physische Präsenz gleichzeitig eine Härte und Unnahbarkeit als auch eine grosse Verletzlichkeit zu geben.
Geschickt bricht «In the Summers» mit den melodramatischen Momenten der Geschichte dank mutiger, harter Schnitte. Immer findet er auch zu zärtlichen Szenen zwischen Vater und Töchtern, ohne aber in die Falle zu tappen, am Ende eine zu einfache Auflösung anzubieten.
4 von 5 ★
«A Real Pain» – Drehbuchpreis Waldo Salt
Jesse Eisenberg | USA, 2024, 90 min.
David (Jesse Eisenberg) und Benji (Kieran Culkin) sind Cousins. Vor ein paar Monaten ist ihre Grossmutter gestorben, die aus Polen stammte. Um damit umzugehen, machen sie eine Reise dorthin, auf den Spuren der jüdischen Geschichte. Beide gehen mit ihrer Trauer unterschiedlich um. Sie schliessen sich einer Gruppe anderer Amerikaner:innen an und besuchen wichtige Stationen des Holocausts, bis sie ihre Emotionen übermannen.
«A Real Pain» ist der zweite Spielfilm nach «When You Finish Saving the World», bei dem Jesse Eisenberg die Regie führt. Erneut handelt es sich um eine Tragikomödie. Dieses Mal spielt Eisenberg aber selbst eine der beiden Hauptrollen. Im Vergleich zu seinem Erstlingswerk ist diese Geschichte weit weniger originell und kann leider nicht im gleichen Mass überzeugen.
Spürbar ist die Ehrfurcht, die der Regisseur dem Thema der Judenverfolgung entgegenbringt. Er ist auch bemüht, möglichst nahe an den Tatsachen zu sein. So wurde der Film an Originalschauplätzen gedreht, man sieht Monumente in Warschau und ein Konzentrationslager in Lublin. Im Film sagt die Figur von Benji einmal, die Tour sei «so touristisch». Das kann man auch über den Film selbst sagen. Der Ausstattung kommt viel Bedeutung zu. Durch den schnellen Schnitt und den häufigen Schauplatzwechsel entsteht eine Dynamik, die die Tragikomödie kurzweilig macht. Doch gleichzeitig bleibt das Gefühl zurück, dass ausser einer schicken Hülle nur wenig Inhalt vorhanden ist.
Den Dialogen fehlt es an Konsistenz. Der zynische Zug, der Eisenberg auszeichnet, will hier nicht in Gänze überzeugen. Das liegt nicht unbedingt am Spiel der Darsteller. Eisenberg steht als zweiter Hauptdarsteller Kieran Culkin, der Bruder von Macaulay Culkin alias «Kevin - allein zu Haus», zur Seite. Als Duo funktionieren die beiden gut.
3 von 5 ★
«Little Death» – Kategorie NEXT – Preis für Innovation
Jack Begert, USA, 2024, 110 min.
Drehbuchautor Martin (David Schwimmer) hat es satt, immer nur die Dialoge für die, wie er sagt, “dumme” Fernsehserie «The Switch» zu schreiben. Er hat das Manuskript für seinen ersten Spielfilm fertiggestellt. Auch wenn seine langjährige Freundin (Jena Malone) nicht daran glaubt, sind die Produzent:innen begeistert. Martin muss sich aber mit einer Bedingung einverstanden erklären, er muss die Hauptrolle auf eine Frau umschreiben – ganz egal, dass sie ihm selbst nachempfunden ist.
«Little Death» ist das anspruchsvolle Regiedebüt von Jack Begert. Thematisch wie visuell versucht der Film, zu überraschen. Das gelingt ihm zwar, aber nicht unbedingt auf gänzlich überzeugende Weise. Diese Mischung aus Drama, Abenteuergeschichte und Sozialkritik verfällt nämlich in zwei unterschiedliche Werke. Bis zur Mitte folgt man der Geschichte des ehrgeizigen Drehbuchautors, der an verschiedenen Angstzuständen und Depressionen leidet, gegen die er eine Vielzahl von Medikamenten einnimmt. Danach verschiebt sich das Augenmerk auf zwei Jugendliche und ihre Drogensucht.
Während der erste Teil dicht erzählt und schnell inszeniert ist, hat der zweite entschieden seine Längen. Im ersten Teil benutzt Begert interessanterweise zudem eine Fülle von sichtlich KI-generierten Bildern und schafft dabei sicherlich eines der ersten umfangreichen Beispiele für deren Einsatz im Kino. Eine der Hauptrollen wird von «Friends»-Darsteller David Schwimmer gespielt. Es gelingt ihm, zwischen bemitleidenswert und abstossend hin- und herzuwechseln.
3 von 5 ★
«Layla» - Kategorie internationaler Spielfilm
Amrou Al-Kadhi | Grossbritannien, 2024, 99 min.
Im London der Gegenwart leben verschiedene Kulturen nebeneinander. Manchmal liegen Welten zwischen ihnen. Layla (Bilal Hansa) wandert zwischen ihrer traditionellen arabischen Familie und der Trans- und Dragqueenszene hin und her. Als sie Max (Louis Greatorex) kennenlernt, verliebt sie sich sofort in ihn. Doch Max ist von Laylas überbordender Art gleichzeitig fasziniert und überfordert. Layla erkennt, dass sie sich selbst akzeptieren muss, um das Gleiche von anderen erwarten zu können.
Einfühlsam entwickelt Amrou Al-Kadhi diese Liebesgeschichte, die vor allem von der schauspielerischen Leistung von Bilal Hansa getragen wird. Leider ist der innere Konflikt der Hauptfigur Layla nicht immer glaubwürdig. Das liegt vor allem am Drehbuch, das die Charakterzeichnung verkürzt darstellt. Das betrifft Haupt- wie Nebenfiguren gleichermassen. Laylas Freundeskreis kommt viel zu wenig zur Geltung. Die Dialoge zwischen ihnen sind auf ein Minimum reduziert. Das ist schade, denn hier wäre noch viel Potential gewesen. Viel Mühe ist allerdings in die Ausstattung geflossen. Laylas Kostüme sind beeindruckend.
3 von 5 ★
«Brief History of a Family» - Kategorie internationaler Spielfilm
Jianjie Lin | China, 2024, 99 min.
Sie könnten nicht unterschiedlicher sein: Der Sohn eines wohlhabenden Ehepaars Wei (Muran Lin) freundet sich mit dem Aussenseiter Shuo (Xilun Sun) an. Während Wei am liebsten Videospiele spielt und Fechtmeister werden will, ist Shuo ein guter Schüler. Aus Mitleid mit Shuo laden Weis Eltern ihn regelmässig zu sich nach Hause ein. Schnell versteht sich Shuo sehr gut mit ihnen. Anfänglich gefällt Wei, dass seine Eltern von ihm abgelenkt sind, doch dann macht sich Eifersucht breit.
Aufgebaut wie ein Krimi, erzählt «Brief History of a Family» in erster Linie von Sehnsucht. Die vier Figuren in diesem Kammerspiel suchen nach Aufmerksamkeit und Verständnis. Der chinesische Regisseur Jianjie Lin hat ein visuelles Meisterwerk geschaffen. Die ruhige Kamera komponiert die Bilder genau und fängt Ungesagtes und das Unbehagen der Figuren ein. Es herrscht eine konstant bedrohliche Atmosphäre, ohne dass die Geschichte je auf einen dramatischen Höhepunkt hinauslaufen würde. Genau damit führt der Film das Publikum an der Nase herum, er konfrontiert mit dem eigenen Misstrauen. «Brief History of a Family» plädiert für Nachsicht und Vertrauen der Menschen für- und ineinander.
Dieses eindrückliche Drama wird nach Sundance in der Sektion Panorama der Berlinale gezeigt werden. Auf unaufdringliche – und Zensur konforme – Weise gelingt es dem Film zudem, Sozialkritik über China zu üben. Eines der wichtigen Themen ist die Ein-Kind-Politik, die das Land lange drakonisch gefordert hat. Für viele Familien und Frauen hat diese schwere Traumata hinterlassen, weil sie zu Abtreibungen oder zum Aussetzen ihrer Säuglinge gezwungen wurden. Zudem thematisiert der Film auch das Statusdenken der chinesischen Gesellschaft und ihr Bildungssystem.
5 von 5 ★
«Veni Vidi Vici» - Kategorie internationaler Spielfilm
Daniel Hoesl, Julia Niemann | Österreich, 2024, 86 min.
Amon (Laurence Rupp) und Viktoria Maynard (Ursina Lardi) leben mit ihren drei Töchtern in einer ausladenden Villa. Ihr Geld öffnet ihnen alle Türen. Amons grosse Leidenschaft ist die Jagd, doch nicht immer übt er sie im legalen Rahmen aus. Dank seiner Kontakte und seinem Reichtum drohen ihm aber keine Konsequenzen, auch nicht, wenn die Beweise auf der Hand liegen.
Nach «WinWin» und «Davos» arbeiten die beiden Österreicher:innen Daniel Hoesl und Julia Niemann wieder zum Thema Geld. Dieses Mal haben sie einen Spielfilm ersonnen, der seinen Ursprung in der Realität hat. Ganz im Stil von Ulrich Seidl, mit dem Hoesl lange als Regieassistent gearbeitet hat, bewegen sie sich haarscharf an der Schmerzgrenze des Publikums. Ihre Sozialsatire ist kompromisslos zynisch. Sie entlassen das Publikum nicht wohlwollend in eine optimistische Zukunft, sie fordern es vielmehr auf, aktiv zu werden, sich zu wehren – oder sonst für immer zu schweigen. Es ist nicht leicht, sich auf den Film einzulassen, denn er fordert und lockt aus der Reserve.
Die Ästhetik von «Veni Vidi Vici» ist grell und kontrastiert bewusst das reduzierte Schauspiel. Neben Laurence Rupp haben die Filmschaffenden auch die Schweizerin Ursina Lardi verpflichtet, die als ruhiger Pol das Ensemble zusammenhält. Bemerkenswert ist auch die Leistung der jungen Olivia Goschler, die die Rolle der ältesten Tochter der Familie übernimmt.
3 von 5 ★
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