Article12. Oktober 2021 Cineman Redaktion
Filmtagebuch: Trügerische Idyllen – Abgeschiedene Gemeinschaften in Film und Fernsehen
In der Provinz lauert der Schrecken – so zumindest zeigen es viele Filme und Serien aus dem Horror- und Thriller-Bereich. Besonders unheimlich geht es dabei in einsam gelegenen Gemeinschaften zu, die sich von der Aussenwelt in manchen Fällen kategorisch abschotten.
Christopher Diekhaus
Mit Mike Flanagans neuer Netflix-Produktion «Midnight Mass», die auf einer entlegenen Insel spielt und von gefährlich aufloderndem Glaubenseifer erzählt, startete Ende September 2021 ein weiteres Beispiel dieses noch immer recht beliebten Erzählmotivs, das – gut umgesetzt – nervenzerfetzende Spannung und handfeste Ausweglosigkeit hervorrufen kann. Ein paar thematisch verwandte Werke möchten wir an dieser Stelle etwas genauer in den Blick nehmen.
1. «The Wicker Man» (1973)
Darum geht’s: Als der schottische Sergeant Howie (Edward Woodward) einen anonymen Hinweis auf das Verschwinden eines jungen Mädchens erhält, führt ihn seine Spurensuche rasch auf die abgeschiedene Insel Summerisle. Die Bewohner behaupten allerdings, die Vermisste nicht zu kennen, was sich, wie der Ermittler feststellen muss, als Lüge entpuppt. Der strenggläubige Christ, der den urtümlichen Fruchtbarkeitsriten der Insulaner skeptisch bis entsetzt gegenübersteht, treibt seine Nachforschungen dennoch voran und lernt schliesslich auch Lord Summerisle (Christopher Lee), das exzentrische Oberhaupt der kleinen Gemeinde, kennen.
Erwähnenswert, weil: Robin Hardys Regiedebüt ein Klassiker der Folklorehorrors ist und vielen anderen Produktionen über verschworene Gemeinschaften als Vorbild diente. Von der schrägen, seltsam unangenehmen Atmosphäre, die die 1973 veröffentlichte Mischung aus Krimi, Horrorstreifen und Musical heraufbeschwört, können viele Nachahmer jedoch nur träumen.
«The Wicker Man» ist eine kuriose Erscheinung, lässt tiefen christlichen Glauben in Gestalt des Polizisten auf heidnische Bräuche prallen, kommt mit immer neuen bizarren Ideen – etwa einem Nackttanz der Wirtstocher Willow (Britt Ekland) – um die Ecke und mündet in ein ebenso überraschendes wie schockierendes Finale. Seinen Kultstatus hat sich der Film allemal verdient!
2. «The Beach» (2000)
Darum geht’s: Der junge US-Amerikaner Richard (Leonardo DiCaprio) reist nach Südostasien, um seinem Leben einen neuen Kick zu geben, und erhält von einem labilen Hotelnachbarn (Robert Carlyle) eine Karte, die den Weg zu einer geheimnisvollen Insel mit einem versteckt liegenden Strand weist. Gemeinsam mit dem französischen Pärchen Françoise (Virginie Ledoyen) und Étienne (Guillaume Canet) schlägt sich der angefixte Richard kurz darauf zu besagtem Eiland durch, auf dem es neben der von Sal (Tilda Swinton) angeführten Aussteigerkommune auch ausgedehnte Cannabisfelder gibt, deren Besitzer von den Outcasts unbehelligt bleiben wollen. Dass die idyllisch anmutende Gemeinschaft ihre Schattenseiten hat, muss Richard schon bald schmerzlich erfahren.
Erwähnenswert, weil: Leonardo DiCaprio, der nach «Titanic» zum Megastar aufgestiegen war, beweist, dass er Menschen am Abgrund, am Rande des Wahnsinns mit grosser Intensität verkörpern kann. Die von Danny Boyle in Szene gesetzte Adaption des gleichnamigen Romans aus der Feder des Schriftstellers und Filmemachers Alex Garland hat sicher ihre Schwächen, bleibt etwa manchmal in der Charakterzeichnung und der Handlungsgestaltung zu sehr an der Oberfläche.
Die Sehnsucht nach einer von Zwängen befreiten Gesellschaft vermittelt der sich schleichend zu einem Horrortrip entwickelnde Abenteuerstreifen aber ebenso nachdrücklich wie die menschliche Neigung, sich selbst in einer als geschützt und friedlich ausgerufenen Umgebung in Konflikten und Eifersüchteleien zu verlieren. Immer und immer wieder sind wir es, die ein mögliches Paradies auf Erden zerstören.
3. «The Village» (2004)
Darum geht’s: Irgendwo tief in den Wäldern liegt das kleine, komplett isolierte Dorf Covington. Dessen Bewohner verlassen die Grenzen der Ortschaft nie, da im Dickicht – so heisst es – finstere Kreaturen lauern. Die Farbe Rot, die diese Wesen anlockt, ist strengstens verboten. Als Lucius Hunt (Joaquin Phoenix) bei einem Streit schwer verwundet wird, erklärt sich seine grosse Liebe Ivy Walker (Bryce Dallas Howard), die blinde Tochter des Dorfvorstehers Edward Walker (William Hurt), bereit, in einer der umliegenden Städte die dringend benötigten Medikamente zu besorgen. Von ihrem Vater wird sie vor ihrem Aufbruch in ein ungeheuerliches Geheimnis eingeweiht.
Erwähnenswert, weil: der sorgsam ausgestattete, das Leben Ende des 19. Jahrhunderts abbildende Film trotz Schwächen in der Figurenzeichnung und einer etwas wackeligen dramaturgischen Konstruktion das Porträt einer in Furcht erstarrten Gemeinschaft zeichnet und illustriert, dass man mit Angst Menschen kleinhalten kann.
Wie fast immer bei dem durch «The Sixth Sense» schlagartig bekannt gewordenen Drehbuchautor und Regisseur M. Night Shyamalan wartet am Ende ein Twist auf den Zuschauer, über den man in diesem Fall trefflich streiten kann. Ist er nun genial und konsequent oder doch lächerlich und unglaubwürdig?
4. «Black Death» (2010)
Darum geht’s: Mitten in der grossen Pestpandemie des 14. Jahrhunderts erhält der Novize Osmund (Eddie Redmayne) unverhofft die Chance, seiner aus der Stadt geflohenen heimlichen Geliebten Averill (Kimberley Nixon) zu folgen. Im Auftrag des Bischofs soll er den Ritter Ulric (Sean Bean) und dessen Gefolge zu einem versteckten Dorf führen, das bislang angeblich auf wundersame Weise von der Krankheit verschont geblieben ist. Die Menschen dort – so der Vorwurf – haben sich von Gott abgewendet und müssen nun mit aller Macht wieder auf den rechten Weg gebracht werden.
Erwähnenswert, weil: es Regisseur Christopher Smith in seinem garstigen, zwischen Historienthriller und Horrorfilm changierenden Werk gelingt, ein konstantes Klima der Bedrohung aufzubauen und die fanatischen Seiten des Glaubens blosszulegen. «Black Death» spielt mit den von der Kirche propagierten Hexenbildern und erzählt am Beispiel des jungen, von Zweifeln geplagten Mönchs eine unbequeme Coming-of-Age-Geschichte, die nicht auf ein Happy End hinausläuft.
Religiöser Wahn und der blinde Eifer, Schuldige für die Pestkatastrophe zu finden, werden sicherlich auf grobe Weise durchdekliniert. Vor dem Hintergrund der Corona-Lage bekommt der Mittelalterschocker jedoch einen ungeahnt aktuellen Anstrich.
5. «Martha Marcy May Marlene» (2011)
Darum geht’s: Als der jungen Martha (Elizabeth Olsen) die Flucht aus einer Sekte gelingt, wendet sie sich in ihrer Not an ihre ältere Schwester Lucy (Sarah Paulson), die mit ihrem beruflich ambitionierten Ehemann Ted (Hugh Dancy) gerade in einem Ferienhaus in Connecticut weilt. Fürs Erste findet die Aussteigerin dort Unterschlupf, fühlt sich aber keineswegs wohl in ihrer Haut. Zum einen wird sie von schmerzhaften Erfahrungen an den Alltag in der von Patrick (John Hawkes) angeführten Kommune bedrängt. Zum anderen droht das durch und durch bürgerliche Leben Lucys Martha die Luft abzuschnüren. Ihre Sorge, dass die Sektenmitglieder sie verfolgen könnten, ist stets präsent.
Erwähnenswert, weil: das kunstvoll zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringende Psychodrama den Zuschauer konsequent an die von Verwirrung und Angst geprägte Wahrnehmung der Hauptfigur bindet. Leidet Martha in der Sektengemeinschaft unter einem System, das Zwang und sexuelle Ausbeutung als ehrlich gemeinte Zuneigung verkauft, erlebt sie im Haus ihrer Schwester eine andere Form der Bevormundung. Die Normen und Regeln, die Lucy und Ted der oft schweigsamen jungen Frau überstülpen wollen, haben einen ebenfalls beklemmenden Effekt.
Regisseur Sean Durkin, der auch das Drehbuch schrieb, stellt patriarchalische Unterdrückungsmechanismen aus, findet immer wieder starke Bilder für die Übergänge zwischen den erzählerischen Ebenen, spielt dabei versiert mit der Tonspur und kann auf eine Hauptdarstellerin vertrauen, die mit einer ergreifend-nuancierten Performance überzeugt.
6. «Midsommar» (2019)
Darum geht’s: Als die Studentin Dani von einem grausamen Schicksalsschlag erfährt, bricht für sie eine Welt zusammen. In dieser von Schmerz geprägten Situation traut sich ihr Freund Christian noch weniger als zuvor, einen Schlussstrich unter ihre wenig einfühlsame Partnerschaft zu ziehen. Als er mit einigen Kommilitonen zu einem Mittsommerfest nach Schweden aufbricht, hängt sich Dani zum Leidwesen der Reisenden an die Gruppe an, um auf andere Gedanken zu kommen. Nach der Ankunft in einer abgelegenen Dorfgemeinschaft, die die Sommersonnenwende alle 90 Jahre auf besondere Weise feiert, werden die amerikanischen Gäste Augenzeugen einer blutigen Zeremonie.
Erwähnenswert, weil: der ohne Eile erzählte, die archaischen Bräuche der eigenartigen Kommune bereits im Szenenbild ausbreitende Film in sonnendurchfluteten Einstellungen und akribisch durchkomponierten Banketttableaus ein ganz eigenes Grauen entfaltet. Ari Aster, der wie bei seinem Debüt «Hereditary – Das Vermächtnis» für Drehbuch und Regie verantwortlich war, eifert spürbar Robin Hardys Klassiker «The Wicker Man» nach, was den Verlauf der Handlung etwas vorhersehbar macht.
Durch gut gesetzte Gewalteruptionen und einen besonderen Fokus auf die dysfunktionale, toxische Beziehung zwischen Dani und Christian verleiht er seiner Geschichte aber eine unberechenbare Note. Das Verhalten der Figuren mag streng genommen nicht sehr glaubwürdig sein. Lässt man die Logik allerdings etwas aussen vor, erzeugt «Midsommar» einen Sog, der in ein die Konflikte des Paares drastisch lösendes Ende mündet.
7. «The Third Day» (2020)
Darum geht’s: Gerade als der von einem schrecklichen Verlust gezeichnete Sam (Jude Law) seiner Trauer nachhängt, wird er auf eine junge Frau (Jessie Ross) aufmerksam, die sich das Leben nehmen will. Kurzerhand schreitet er ein und bringt sie zurück nach Hause, auf die Atlantikinsel Osea, deren Zufahrtsweg bei Flut überschwemmt ist, weshalb er auf dem kleinen Fleckchen Erde festsitzt. Während sich die wenig auskunftsfreudigen Insulaner auf ein heidnisches Fest vorbereiten, gerät Sam in einen unheimlichen Strudel. Einige Zeit später schlägt auf der Insel Helen (Naomie Harris) mit ihren beiden Töchtern Ellie (Nico Parker) und Talulah (Charlotte Gairdner-Mihell) auf und gerät ebenfalls in Konflikt mit den exzentrischen Bewohnern.
Erwähnenswert, weil: die von Felix Barrett und Dennis Kelly kreierte Miniserie in zwei formal grundverschiedenen, jeweils drei Folgen umfassenden Teilen auf packende Weise von Verlust, Trauer, Schuld und familiärer Verantwortung erzählt. «The Wicker Man» lugt zwar auch hier kräftig durch. «The Third Day» ist aber beileibe kein billiger Abklatsch. Schon deshalb nicht, weil der real existierende Schauplatz, die nur über einen Schotterdamm mit dem Festland verbundene Insel Osea, eine individuell-beunruhigende Aura verströmt.
Die Sam-Episoden produzieren durch Unschärfen, seltsame Kamerawinkel, eigenartige Farbspiele, extreme Nahaufnahmen und ein experimentelles Sounddesign eine paranoide Stimmung und kommen einem Abstieg in die Hölle gleich. Der Helen-Abschnitt wiederum ist deutlich weniger hysterisch gefilmt, präsentiert sich in seiner winterlichen Tristesse aber ähnlich bedrückend und spannend. Dass die zeitlich getrennten Stränge in einer Verbindung stehen, sollte nicht verwundern. Die erschütternden Dimensionen der Beziehung werden allerdings erst schrittweise klar.
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