Critique28. Juni 2024 Cineman Redaktion
Apple TV+-Kritik: «Fancy Dance»: Auf der Flucht und auf der Suche
Indigene Kultur und die bis heute andauernde Diskriminierung der nordamerikanischen Ureinwohner:innen stehen im Zentrum von Erica Tremblays stimmungsvollem Spielfilmdebüt «Fancy Dance», das mit Lily Gladstone («Killers of the Flower Moon») in der Hauptrolle prominent besetzt ist.
Die Indigene Jax (Lily Gladstone) hält sich mit Gaunereien über Wasser und hat vor allem ein Ziel vor Augen: ihre verschwundene Schwester Tawi zu finden. Parallel kümmert sie sich im Seneca-Cayuga-Reservat um deren Tochter Roki (Isabel Deroy-Olson), die kurz vor einer wichtigen Tanzzeremonie beim traditionellen Powwow steht. Als Roki in die Obhut ihres Grossvaters Frank (Shea Whigham) überführt wird, haut Jax mit ihrer Nichte in einer Nacht- und Nebelaktion ab.
Erinnerungen weckt Tremblays Filmerstling an Taylor Sheridans Thriller-Werk «Wind River» (2017), das auf das Problem vermisster Ureinwohnerinnen aufmerksam macht und die halbherzige Aufarbeitung der Behörden anprangert. Reale Missstände werden dort mit den Mitteln des Spannungskinos aufbereitet. Trotz mancher Zwischentöne steht der Film ganz im Zeichen der klassischen Hollywood-Dramaturgie, ist also stets darum bemüht, die Handlung voranzutreiben.
Bei «Fancy Dance» verhält es sich nun etwas anders. Der Krimi-Aspekt der Geschichte schwingt zwar permanent mit, liefert einige Momente handfesten Nervenkitzels, bildet aber nur den Hintergrund, um von anhaltender Ungleichbehandlung und staatlichem Versagen zu erzählen. Bezeichnend, dass die Polizei alle Hebel in Bewegung setzt, als Frank, ein weisser US-Bürger, Jax‘ Gesetzesübertretung meldet, während das Schicksal ihrer Schwester niemanden so recht zu interessieren scheint. Die Prioritäten sind offenbar klar verteilt.
Raffiniert eingefädelte Wendungen darf man vom Drehbuch nicht erwarten. Dafür interessieren sich die Regisseurin und ihre Mitautorin Miciana Alise viel zu sehr für die atmosphärischen Schwingungen ihres Stoffs. «Fancy Dance» soll uns ein Gefühl von der in zahlreichen Reservaten grassierende Trostlosigkeit vermitteln, die mit dem blankgeputzten Vorstadtleben Franks und seiner zweiten Ehefrau Nancy (Audrey Wasilewski) kontrastiert. In farblich entsättigten Bildern tauchen wir in eine indigene Welt ein, in der Drogen, Alkohol und Kriminalität fehlende Perspektiven ersetzen. Als Mitglied der Seneca-Cayuga-Nation weiss Debütantin Erica Tremblay, wovon sie spricht.
Ein besonderes Augenmerk legt der Film auf die Frage nach der Identität der Ureinwohner:innen, nach dem Bewahren sinnstiftender Traditionen. Dabei im Fokus: die Teenagerin Roki, die eine Erkenntnisreise durchlebt und von ihrer Tante vor harten Wahrheiten abgeschirmt wird. Gerade weil die Beziehung der beiden Protagonistinnen und die zwischen ihnen aufkommenden Konflikte so wichtig für die emotionale Wirkung sind, hätte Tremblay Roki noch ein bisschen mehr Entfaltungsraum geben können. Die Handlungen der Jugendlichen scheinen manchmal forciert und verleihen dem letzten Drittel etwas Formelhaftes. Was hier passieren muss, lässt sich jedenfalls schon früh vorhersagen.
Kraftvoller Dreh- und Angelpunkt des leise brodelnden Dramas ist Golden-Globe-Gewinnerin Lily Gladstone. Jax‘ Verzweiflung, ihre Wut und ihre Unerschrockenheit bündelt die selbst in einem Reservat aufgewachsene US-Schauspielerin in einer zurückgenommenen, nie effekthascherischen Performance. Ihrer Figur dabei zuzusehen, wie sie trotz aller Schwierigkeiten Fragen stellt, dahin geht, wo es wehtut, ist zweifelsohne sehenswert.
3.5 von 5 ★
«Fancy Dance» ist seit dem 28. Juni auf Apple TV+ verfügbar.
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