Article21. November 2024 Cineman Redaktion
Suche nach dem eigenen Ich: Die 10 besten Filme zum Thema Transidentität
Der französische Musical-Thriller «Emilia Pérez» wurde in Cannes gefeiert und gilt als heisser Oscar-Favorit. Im Mittelpunkt des Filmes von Jacques Audiard steht ein gefürchteter Kartellboss, der sein neues Leben als Frau beginnen will. Weniger gesungen wird in den folgenden Filmen, die sich ebenfalls mit trans Realitäten beschäftigen, dabei aber genauso sehenswert sind.
von Sarah Stutte
1. «Paris Is Burning» (1990)
Darum geht’s: Der bahnbrechende Dokumentarfilm gibt der New Yorker Ballroom-Szene der 80er-Jahre ein Gesicht. Die Teilnehmer:innen dieser Wettbewerbe in Harlem – Mitglieder verschiedener Häuser – zeigen auf einem Catwalk ihre Darbietungen, meist ein Mix aus Tanz, Drag, Modeln oder Lippensynchronisation. Dabei werden sie von einer Jury bewertet. Zwischen diesen Szenen werden Interviews mit Teilnehmer:innen geführt, die aus ihrem oftmals bedrückenden Alltag erzählen. Einige von ihnen wurden noch während der Dreharbeiten oder danach ermordet.
Sehenswert weil: Jennie Livingstons Arbeit, für die sie zwei Jahre lang recherchierte und weitere zwei Jahre filmte, gilt heute als wichtiges Zeitzeugnis der Schwulen- und Transgenderszene sowie der afroamerikanischen und Latino-Community jener Zeit. Livingston nahm sich wichtiger Themen an, wie der Gemeinschaft als Ersatzfamilie, wurde allerdings auch mit Vorwürfen konfrontiert, die Künstler:innen für den Film ausgebeutet zu haben. Damit beschäftigt sich eine spätere Dokumentation mit dem Titel «How Do I Look» von 2006.
2. «Alles über meine Mutter» (1999)
Darum geht’s: Die alleinerziehende Krankenschwester Manuela lebt mit ihrem 17-jährigen Sohn Esteban in Madrid. Der Junge möchte Schriftsteller werden und hat ein Drehbuch mit dem Titel «Alles über meine Mutter» geschrieben, in dem der Vater, den er nie kennengelernt hat, eine Leerstelle hinterlässt. Als Esteban wenig später bei einem Unfall ums Leben kommt, macht sich seine Mutter auf die Suche nach dem Vater des Jungen, der inzwischen als trans Frau Lola lebt und nicht von einem Sohn wusste.
Sehenswert weil: Diese grossartig inszenierte schwarze Komödie handelt von Liebe, Familie, Freundschaft und Loyalität, vom Leben, der Kunst und davon, sich stets neu zu erschaffen. Pedro Almodóvar hat eine Ode an die Frauen geschrieben, die dem Machismo seines Heimatlandes Spanien mit weiblicher Solidarität und Stärke begegnet. Die Widmung am Ende des Films spricht für sich: «Für alle Schauspielerinnen, die Schauspielerinnen gespielt haben. Für alle Frauen, die (schau)spielen. Für die Männer, die (schau)spielen und zu Frauen werden. Für alle Menschen, die Mütter sein wollen. Für meine Mutter.»
3. «The Crying Game» (1992)
Darum geht’s: IRA-Mitglied Fergus bewacht den entführten britischen Soldaten Jody mehrere Tage lang und freundet sich mit ihm an. Kurz vor seinem Tod nimmt er Jody das Versprechen ab, dessen Freundin Dil in London aufzusuchen. Fergus trifft Dil, verschweigt ihr aber die Umstände von Jodys Tod, weil er sich selbst in die rätselhafte Frau verliebt.
Sehenswert weil: Regisseur Neil Jordan erhielt 1993 für das Drehbuch einen Oscar. Der Film gewann unzählige weitere Auszeichnungen, innerhalb der queeren Community wird er aber durchaus strittig angesehen. Besonders aufgrund einer völlig zu Recht kritisierten Szene, die als unmittelbare Reaktion auf das (visuelle) Outing von Dil als trans Frau erfolgte und danach mehrfach in Klamauk-Komödien parodiert wurde. Doch die Hauptfigur macht im weiteren Verlauf eine positive Wandlung durch und zudem wurde hier zum ersten Mal in einer grossen Produktion eine trans Person in einer Haupt- bzw. Schlüsselrolle besetzt, die nicht negativ konnotiert war. Der Film ist schon allein deshalb und nicht zuletzt dank der faszinierenden Performance von Jaye Davidson ein Klassiker.
4. «Priscilla - Königin der Wüste» (1994)
Darum geht’s: Die beiden Drag-Queens Mitzi und Felicia machen sich zusammen mit der gerade verwitweten trans Frau Bernadette auf eine Reise von Sydney nach Alice Springs. Da sie alle knapp bei Kasse sind, wollen sie dort in einer Hotellounge auftreten. Die Reise absolvieren sie in einem umgebauten Bus, den sie Priscilla taufen. Unterwegs begegnen sie einerseits Menschen mit Vorurteilen als auch solchen, die es gut mit ihnen meinen. Alle drei wachsen schliesslich an den gemachten Erfahrungen, doch Mitzi hütet noch ein Geheimnis.
Sehenswert weil: Drehbuchautor und Regisseur Stephan Elliott schuf mit dieser witzigen, intelligenten und äusserst liebenswerten Road-Trip-Komödie einen bahnbrechenden queeren Kultfilm. Der Film war seiner Zeit in punkto Normalität in der Darstellung von LGBTQ+ Figuren weit voraus und ist es in gewisser Weise auch immer noch. Vor einigen Monaten wurde bekannt, dass Elliott nach 30 Jahren offenbar eine Fortsetzung seines damals für das Beste Kostümdesign mit dem Oscar ausgezeichneten Hits plant – mit der Originalbesetzung.
5. «Joyland» (2022)
Darum geht’s: Der verheiratete Haider ist Teil einer Grossfamilie in Lahore. In der beengten Wohnung nahe eines Vergnügungsparks namens Joyland leben Haiders Vater Abba, der im Rollstuhl sitzt, sein Bruder Saleem mit dessen Frau Nucchi und deren vier lebhaften Töchtern. Während Saleem versucht, Abba endlich das ersehnten Enkelkind zu schenken, sucht Haider die Anerkennung seines Vaters mithilfe eines neuen Jobs. Diesen findet er ausgerechnet in einem Erotikladen als Background-Tänzer, wo er sich prompt in die trans Frau Biba verliebt, den Star der Show.
Sehenswert weil: Saim Sadiqs feinfühliges Erstlingswerk zeigt am Beispiel einer pakistanischen Familie ein Land, das zwischen traditionellen und modernen Lebensentwürfen seinen Weg sucht. Dabei erlaubt der Film intime Einblicke in den Alltag einer Gesellschaft, die von tiefer Armut und Unsicherheit geprägt ist und in der die Menschen die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen können. Aus dem beeindruckenden Cast ragt die trans Performerin Alina Khan als anmutig-fesselnde Biba heraus. In Pakistan wurde der Film wegen seiner angeblich sexuellen Unmoral verboten.
6. «Petite Fille» (2020)
Darum geht’s: Die 7-jährige Sasha aus Nordfrankreich ist transsexuell. Zusammen mit ihren Eltern kämpft sie für eine normale Kindheit. Dabei skizziert die ergreifende Dokumentation von Sébastien Lifshitz die Sorgen der Erwachsenen vor der Diskriminierung ihres Kindes und dessen Angst, nicht gesehen zu werden. Vor allem nicht von den Schulbehörden, die sich anfangs quer stellen, Sasha als Mädchen zu akzeptieren.
Sehenswert weil: Der intime Dokumentarfilm zeigt eine unterstützende Familie, die alles tut, um ihrem trans Kind die Identität und das Leben zu ermöglichen, das es sich wünscht. Der Regisseur hat die Familie über ein Jahr lang begleitet und dabei viele Alltagsmomente eingefangen – die Kamera versucht dabei stets auf Sashas Augenhöhe die Emotionen einzufangen. Tiefes Mitgefühl und Hoffnung liegen in dieser Geschichte nahe beieinander. Lifshitz wollte einen Film drehen, der das Publikum über das Thema Transsexualität aufklärt und hat ein herzzerreissendes Manifest für mehr Toleranz und respektvollen Umgang miteinander geschaffen.
7. «Beautiful Boxer» (2003)
Darum geht’s: Nong Toom wächst in einer entlegenen Provinz Thailands auf und stammt aus armen Verhältnissen. Der sensible Junge merkt schon früh, dass er eigentlich als Frau geboren wurde und fängt an, mit Make-up zu experimentieren und Tanzaufführungen für seine Familie zu inszenieren. Für den Kampfsport Muay-Thai interessiert er sich eigentlich nur, weil er merkt, dass er darin gut ist und damit schnell Geld verdienen kann. Dieses spart er, um damit seine Eltern zu unterstützen und seine medizinische Transition zu bezahlen.
Sehenswert weil: Der Film basiert auf dem Leben der echten Muay-Thai-Kämpferin Parinya Charoenphol, die als Nong Toom 1998 Kickbox-Champion wurde. In den Ring stieg sie mit Lippenstift und stellte damit auch den archetypisch männlich-geprägten thailändischen Volksport infrage, in dem Frauen bis heute keinen Platz haben. «Beautiful Boxer» zeigt beeindruckende Kampfsportszenen, denn die Hauptrolle besetzte mit Asanee Suwan ebenfalls ein echter Kickbox-Champion. Dieser überzeugt aber vor allem, weil er die inneren Kämpfe seiner Figur – ausgelöst durch die Anfeindungen von allen Seiten – mit aufrichtigem Interesse wiedergibt.
8. «Disclosure: Hollywoods Bild von Transgender» (2020)
Darum geht’s: Trans Filmschaffende wie Laverne Cox («Orange Is the New Black»), Lilly Wachowski («Matrix»-Trilogie) oder Jamie Clayton («Sense8») werfen in der Dokumentation einen Blick auf die Sichtbarkeit und Darstellung von trans Personen in Hollywoodfilmen und Serien von den frühen Anfängen bis heute.
Sehenswert weil: Die spannende Aufarbeitung von Sam Feder und Amy Scholder punktet mit zahlreichen nachdenklich stimmenden Quotes von älteren sowie jüngeren trans Filmemacher:innen, Historiker:innen und Aktivist:innen. Diese rufen die hoffnungsvollen Momente – beispielsweise die Karriere von Christine Jorgensen als erste offen lebende trans Frau in Hollywood – ins Gedächtnis. Aber auch den traurigen Fakt, dass in der Vergangenheit trans Personen auf der Leinwand vor allem als psychopathische Killer:innen, Todgeweihte oder Witzfiguren dargestellt wurden. Sie erzählen zudem von ihren eigenen, meist unschönen, Erfahrungen im Showgeschäft und warum Filme wie «Boys Don't Cry» oder «The Danish Girl» zwar gut gemeint und geschauspielert sind, aber im ersten Fall heftige Trigger hervorrufen können und im zweiten historische Fakten unterschlagen.
9. «Something You Said Last Night» (2022)
Darum geht’s: Die junge trans Frau Ren schwankt während eines einwöchigen Familienausflugs zwischen Bindung und Entfremdung. Auf engstem Raum teilt sie sich mit ihrer Schwester ein Schlafsofa im Wohnzimmer, während zwischen ihnen – doch nicht nur dort – langsam die Spannungen zunehmen. Auch die Eltern pendeln zwischen kleinen Zwistigkeiten und innigen Augenblicken hin und her.
Sehenswert weil: Für queere Menschen, für die Selbstliebe unabdingbar ist, um zu überleben, ist das Thema Familie oft ein schwieriges. Komplizierte Gefühle zwischen Loslösen und Vertrautheit stehen für sie in Konflikt mit der Sehnsucht nach Verständnis. Das klingt im Spielfilmdebüt der kanadisch-italienischen trans Filmemacherin Luis De Filippis leise an. Der Film, der lose von ihrer eigenen Familie inspiriert ist, baut in vielen kleinen Momenten schnell eine berührende Intimität auf. Das Schöne an dieser Geschichte, die Tiefe im Alltäglichen findet, ist dabei, wie natürlich und liebevoll hier eine Familie miteinander umgeht, in der die Transsexualität der Tochter nie zum Problemthema gemacht, sondern einfach als selbstverständlich betrachtet wird.
10. «Girl» (2018)
Darum geht’s: Die 15-jährige Lara träumt davon, eine Ballerina zu werden. Sie absolviert eine Probezeit an einer der renommiertesten Ballettschulen Belgiens und steht gleichzeitig kurz vor ihrer Transition. Eine doppelt belastbare Situation, denn der Druck ist gross, als Tänzerin und als junge Frau zu genügen.
Sehenswert weil: Lukas Dhont zeigt in seinem intensiven Debüt nach wahren Begebenheiten das Erwachsenwerden einer trans Jugendlichen auf, die genau weiss, was sie will. Die Kamera ruht dabei vor allem auf Lara, was dem behutsam inszenierten und einfühlsamen Film einen dokumentarischen Charakter verleiht und die emotionale Achterbahnfahrt ihrer Gefühle greifbar macht. Der damals 16-jährige Tänzer Victor Polster spielt diese Rolle nuanciert und berührend. Dem Film wurde vorgeworfen, die Körperlichkeit unnötig zu erotisieren und auch eine Gruppenmobbing-Szene sowie das Ende sind problematisch. Dhont gelingt es aber, den sozialen wie psychischen Druck spürbar werden zu lassen, dem trans Menschen tagtäglich ausgesetzt sind.
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