Article22. November 2023 Cineman Redaktion
Filmwissen: Mit jeder Faser seines Körpers: Nahaufnahme Joaquin Phoenix
Exzentrisch und auf kaputte Figuren abonniert – diese Attribute verfolgen US-Schauspieler Joaquin Phoenix seit vielen Jahren. Seinen Ruf hat sich der Oscar-Preisträger sicherlich verdient. Ihn aber bloss als Experten für Freaks und Bösewichte darzustellen, greift viel zu kurz. Den Kinostart von Ridley Scotts biografischem Epos «Napoleon», in dem Phoenix die Titelrolle spielt, nehmen wir zum Anlass für ein Porträt des Vollblutmimen mit der Narbe an der Oberlippe.
von Christopher Diekhaus
Bewegte Kindheit
Einige Hollywood-Stars sind unter eher ungewöhnlichen Umständen aufgewachsen. Nur wenige haben allerdings eine derart turbulente Geschichte hinter sich wie Joaquin Phoenix. Als Kleinkind sind er und seine Geschwister Teil der Sekte «Children of God», die heute als «The Family» firmiert und von Missbrauchsvorwürfen umgeben ist. Gemeinsam mit ihren missionarisch aktiven Eltern tingeln sie durch den Karibikraum, Mittel- und Südamerika, bis es 1977 zur Trennung von der zweifelhaften Gemeinschaft kommt. Nach diesem Bruch legt die Familie ihren eigentlichen Nachnamen Bottom ab und tauscht ihn, in Anspielung auf den mythischen Vogel, der aus seiner eigenen Asche wieder aufersteht, gegen Phoenix ein. Alle Zeichen stehen damit auf Neuanfang.
Ende der 1970er-Jahre geht es nach Los Angeles, wo die Kinder in kleinen Werbe- und Fernsehrollen erste Erfahrungen mit der Unterhaltungsbranche sammeln. Sein Filmdebüt gibt Joaquin Phoenix, der sich zu dieser Zeit noch Leaf Phoenix nennt, mit dem Science-Fiction-Streifen «Space Camp» (1986). Beachtung findet in jungen Jahren vor allem seine Darbietung in Ron Howards Komödie «Parenthood» (1989), in der er mit grosser Überzeugungskraft einen unsicheren Teenager verkörpert.
Schicksalsschläge und der Durchbruch als Schauspieler
Weil interessante Rollenangebote ausbleiben, zieht sich Phoenix Anfang der 1990er-Jahre vorübergehend aus dem Filmgeschäft zurück. Genau in dieser Zeit ereilt ihn ein Schicksalsschlag, der den Schauspieler bis heute prägt. In Folge einer Überdosis verstirbt 1993 in seinem Beisein vor dem Nachtclub «The Viper Room» in West Hollywood sein älterer Bruder River Phoenix, der damals zu den vielversprechendsten Nachwuchsstars des US-Kinos zählt. Dem teils schmierigen Presserummel rund um die Tragödie entflieht die Familie bis auf Weiteres nach Costa Rica.
Seine Schauspielkarriere nimmt Joaquin Phoenix Mitte der 1990er-Jahre wieder auf und setzt in Gus Van Sants Mediensatire «To Die For» (1995) als verstörter Jugendlicher, der von einer älteren Frau manipuliert wird, Akzente. Seine Fähigkeit, unsichere Figuren mit brennender, fast manischer Intensität zu verkörpern, sich ganz in eine Rolle zu versenken, ist schon hier erkennbar.
Der grosse Durchbruch gelingt Phoenix im Jahr 2000 mit Ridley Scotts kolossal erfolgreichem Sandalenepos «Gladiator». Sein Part, eine fiktive Version des real existierenden römischen Kaisers Commodus, hätte leicht zu einem platten Bösewicht verkommen können. Dem Jungdarsteller gelingt es aber, den Wahnsinn des mörderischen Herrschers nuancenreich zum Ausdruck zu bringen. Lohn der Darbietung ist seine erste Oscar-Nominierung.
Spezialist für Abgründiges
Dass sich Phoenix in der Folgezeit immer wieder schwierigen, düsteren, problembeladenen Charakteren widmet, ist auffällig. Ebenso wie seine oft sehr akribische und immersive Rollenvorbereitung. In bester Method-Acting-Manier stimmt er seinen Körper auf die jeweiligen Herausforderungen ein. Für Paul Thomas Andersons Sektendrama «The Master» (2012), das ihn als einen seelisch versehrten Kriegsveteranen im Bann eines zwielichtigen Gurus zeigt, drosselt er merklich sein Gewicht, um die Verletzlichkeit seiner Figur zu unterstreichen.
Wohl noch ausgemergelter tritt uns Phoenix in Todd Phillips‘ eigenwilliger Schurken-Origin-Story «Joker» (2019) entgegen, für die er verdientermassen mit dem Oscar ausgezeichnet wird. Der Film leidet durchaus an küchenpsychologischen Erklärungen. Sein Hauptdarsteller entwirft, unter anderem mit pointierten Tics wie einem unkontrollierten Lachen, aber das vielschichtige Porträt eines labilen, von immer neuen Enttäuschungen zermürbten Mannes. Ikonischen Status hat zweifellos das entfesselte Tänzchen, das sein Joker auf den Treppenstufen einer Strasse von Gotham City hinlegt.
In die andere Richtung geht es für Lynne Ramsays Thriller-Drama «You Were Never Really Here» (2017). Phoenix spielt darin erneut einen traumatisierten Kriegsheimkehrer, der dieses Mal allerdings mit beunruhigender Präsenz und brachialer Körperlichkeit besticht. Wie eine Kampfmaschine walzt der muskelbepackte, mit einem Hammer bewaffnete Ex-Soldat durch den Film und befreit junge Fragen aus den Klauen übler Menschenhändler.
Einer Tour de Force gleicht nicht zuletzt der Auftritt des Oscar-Preisträgers in Ari Asters dreistündigem Seelenstriptease «Beau Is Afraid» (2023). In beklemmenden, teils wahnwitzig-surrealen Bildern nimmt uns Phoenix hier mit auf den Trip eines Neurotikers, der ein höchst ungesundes Verhältnis zu seiner dominanten Mutter pflegt.
Viel Verve legt der Schauspieler zudem in die Verkörperung des Country-Stars Johnny Cash in James Mangolds «Walk the Line» (2005). US-Kritikerpapst Roger Ebert, ein intimer Kenner des einflussreichen Musikers, zeigt sich nach Sichtung des Biopics erstaunt darüber, dass die Gesangspassagen vom Hauptdarsteller selbst stammen. So sehr klingen sie nach Cash und dessen markanter tiefer Stimme.
Leisen Tönen nicht abgeneigt
Eine besonders bizarre Form des Abtauchens in eine Rolle umgibt die Mockumentary «I’m Still Here» (2010), die Phoenix zusammen mit Casey Affleck konzipiert. Relativ überraschend kündigt Ersterer 2008 seinen Rückzug aus dem Schauspielgeschäft an, um fortan eine Karriere als Rapper zu verfolgen. Phoenix lässt sich einen Rauschebart wachsen und sorgt mit einem Auftritt als desinteressierter Zausel in der Talkshow «Late Night with David Letterman» für Aufsehen und Entsetzen. Offenbar scheint dem Hollywood-Star sein Leben zu entgleiten. Der in «I’m Still Here» dokumentierter Absturz entpuppt sich jedoch als grossangelegter Schwindel, als eine Art Kunstperformance, die den Celebrity-Kult aufs Korn nimmt.
Keine Frage, Joaquin Phoenix liebt es exzentrisch, ist ein Spezialist für abgründige Figuren. Allzu oft wird er jedoch allein auf diese Eigenschaften reduziert. Besonders zwei Werke aus seiner Filmografie belegen, dass er sehr wohl auch die ruhigen Töne, das Nachdenkliche beherrscht. Unter der Regie von Spike Jonze liefert er in «Her» (2013) als introvertierter Ghostwriter, der sich in die Stimme seines neuen Betriebssystems verliebt, eine fein austarierte, tief berührende Performance ab. Nichts ist hier zu sehen von den expressionistischen Zügen, die viele seiner Rollen bestimmen.
Ähnlich zurückhaltend agiert er in Mike Mills‘ wunderschönem Schwarz-Weiss-Roadmovie «C’mon C‘mon» (2021), das von der Annäherung zwischen einem melancholischen Radiomoderator und seinem Neffen erzählt. Wie der Schauspielprofi seinem jungen Ko-Star Woody Norman auf Augenhöhe begegnet, wie er grosse Empfindungen in kleine Regungen und Gesten packt, ist schlichtweg phänomenal.
Das Historienepos «Napoleon» beweist nun noch einmal sehr anschaulich, dass Joaquin Phoenix, übrigens ein überzeugter Veganer und energischer Tierschutzaktivist, alle möglichen Register beherrscht. Ob stoisch, aufbrausend, geckenhaft, auf alberne Weise lüstern oder bockig wie ein Kind – sein Napoleon hat viele Facetten, ist seltsam charismatisch, auch wenn der Film seinem komplexen Stoff und seinem schillernden Protagonisten in zweieinhalb Stunden nicht gerecht wird.
«Napoleon» ist ab dem 23. November in den Kinos zu sehen.
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