Critique14. Dezember 2020

Netflix-Kritik «Alice in Borderland»: Folge dem weissen Kaninchen

Netflix-Kritik «Alice in Borderland»: Folge dem weissen Kaninchen
© Netflix

In Anlehnung an die Geschichte von Alice im Wunderland ist diese Live-Action Adaption eines populären Japanischen Manga eine ambitionierte Darstellung einer post-apokalyptischen Welt, in der gewisse Leute in Tokyo eine Reihe von Spielen gewinnen müssen, um am Leben zu bleiben.

Filmkritik von Gaby Tscharner

Arisu (Kento Yamazaki) ist ein Studienabbrecher, der den ganzen Tag Videogames spielt und deshalb von seiner Familie und der japanischen Gesellschaft als Taugenichts abgestempelt wird. Als er eines Tages der Nörgelei seines Vaters entflieht und mit seinen Freunden, dem Frauenheld Karube (Yuki Morinaga) und dem IT-Mann Chota (Keita Machida), in Tokyos Innenstadt Unfug treibt, werden sie von der Polizei in ein U-Bahn WC getrieben. Als die Luft wieder rein scheint, finden sie die Stadt aber völlig leergefegt.

Menschenleere Strassen und U-Bahnstationen. Nur Tokyos Neonlichter weisen sie in die Richtung hochriskanter Games, in denen es für die Spieler um Leben und Tod geht. Eine Weigerung der Teilnahme führt zu einem schnellen Tod durch Laserstrahlen, die zu jeder Zeit aus dem Himmel schiessen können. Während die Latte der Herausforderungen in jedem Spiel höher geschraubt wird, fragen sich Arisu und seine Freunde, die im Laufe der Serie weiteren Spielern wie der Extrem-Bergsteigerin Usagi (Tao Tsuchiya) begegnen, wie weit sie gehen würden, um zu überleben.

Die Serie kritisiert eine Gesellschaft, in der Charaktereigenschaften wie Loyalität und Selbstlosigkeit als Tugenden zelebriert werden.– Cineman-Filmkritikerin Gaby Tscharner

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«Alice im Borderland» ist die erfolgreiche Adaption eines populären Manga von Haro Aso. Als eine Art Mischung zwischen «Hunger Games» und «The Walking Dead» (ohne Zombies) liefert die Serie zwar eine Menge Action, im Zentrum stehen aber die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Serie kritisiert eine Gesellschaft, in der Charaktereigenschaften wie Loyalität und Selbstlosigkeit als Tugenden zelebriert werden und Individualismus, das Streben nach Selbstverwirklichung und geistige Gesundheit nichts gelten.

Zu Beginn sehen wir Tokyo und die oft aufgesetzt scheinende Glückseligkeit seiner Bewohner. Sie shoppen auf der Ginza und knipsen Selfies vor Werbeplakaten. Aber unter dem Schein liegt viel Stress und der ständige Druck, perfekt zu sein. Vor diesem Hintergrund lernen wir Arisu kennen: Ein junger Mann, der von seiner Familie und der Gesellschaft als Versager abgestempelt wird. Der Weltuntergang und die Wüste des leergefegten Tokyo sind der Spiegel seiner Seele. Doch anstatt aufzugeben, wie seine Umwelt das von ihm erwartet, stellt sich Arisu der Herausforderung und erweist sich als enorm kompetent, um in dieser neuen Welt überleben zu können.

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Parallelen zu Lewis Carrolls Märchen «Alice im Wunderland» sind nicht zufällig. Arisu heisst Alice auf Japanisch, Usagi bedeutet Hase und die Art, wie der Schwierigkeitsgrad jedes dieser lebensgefährlichen Spiele dargestellt wird, sind Spielkarten. Ein Kreuzdrei-Spiel z.B. ist ein relativ einfaches Gruppenspiel, ein Herzzehn-Spiel hingegen ist das Schwierigste, weil es die Herzen der Mitspieler malträtiert.

Später erreichen die Protagonisten ein Strandhotel in einem Vorort Tokyos, wo ein selbsternannter Führer namens Hatter (Nobuaki Kaneko) – eine weitere «Alice im Wunderland» Referenz – das utopische Refugium The Beach gegründet hat, wo die Überlebenden Party machen, bevor sie in die Arena des nächsten Games einziehen. Der Hatter zitiert Gandhi Weisheiten wie „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt“ und macht seinen Anhängern falsche Hoffnung auf Erlösung. Hatters Welt basiert aber nur auf seinem eigenen Überleben.

Die Figur Arisu ist sympathisch und schafft es, unsere Aufmerksamkeit zu halten, auch wenn seine Schauspielerei für ein westliches Publikum oft etwas übertrieben scheint.– Cineman-Filmkritikerin Gaby Tscharnen

Die erste Episoden von «Alice im Borderland» sind spannend und unerwartet. Sie testen die Protagonisten bis aufs Äusserste und ihr Verhalten hält für den Zuschauer viele Überraschungen bereit. Kento Yamazaki als Arisu ist sympathisch und er schafft es, unsere Aufmerksamkeit zu halten, auch wenn seine Schauspielerei für ein westliches Publikum oft etwas übertrieben scheint. Die zweite Hälfte der Staffel ist langsamer: Ein Krimi, der vor allem den Fadenziehern dieser brutalen Spiele auf die Spur kommen will.

Einige von Netflix erfolgreichsten Produktionen sind in der Manga und Anime Welt angesiedelt. Für den Streaming-Service macht es also Sinn, ein Live-Action Drama für dieses Publikum zu kreieren. Aber in diesem Fall spielt es keine Rolle, ob die Zuschauer Fans von Anime sind oder die Manga-Vorlage gelesen haben. «Alice im Borderland» ist universell verständlich.

Das Interessanteste an dieser Serie ist jedoch der Einblick in eine andere Kultur. In Arisus Tokyo scheint es zwar keine ethnische Vielfalt zu geben, aber die zwischenmenschlichen Beziehungen und Probleme wie Depression oder Transsexualität, die in dieser Serie angesprochen werden, werden weltweit thematisiert und beweisen, wie ähnlich wir einander doch sind.

4 von 5 ★

«Alice in Boarderland» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.

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