Critique27. April 2022

Netflix-Kritik «Anatomy of a Scandal»: #Metoo erreicht die britische Regierung

Netflix-Kritik «Anatomy of a Scandal»: #Metoo erreicht die britische Regierung
© Netflix

Die Netflix Miniserie «Anatomie eines Skandals» nimmt Sex und das Einwilligen darauf, aber auch das Privileg und Anspruchsrecht wohlhabender Leute unter die Lupe. Aber lächerliche Dialoge und eine unglaubwürdige Wende in der Handlung verderben David E. Kelleys neuste Miniserie.

Filmkritik von Gaby Tscharner Patao

James Whitehouse (Rupert Friend), ein Mitglied des britischen Parlaments und seit seiner Studienzeit an der Oxford Universität enger Freund des Premierministers (Geoffrey Streatfeild), wird von seiner viel jüngeren Mitarbeiterin Olivia (Naomi Scott), mit der er eine fünfmonatige Affäre hatte, der Vergewaltigung bezichtigt. Im Verlauf des Gerichtsprozesses wird Whitehouses Ehefrau Sophie (Sienna Miller) klar, dass ihr Mann sie nicht nur betrogen, sondern auch bezüglich anderer Dinge angelogen hat.

Die Jahrhunderte alte Architektur Londons wird entweder wie in einem Tourismus Video zelebriert oder aus den seltsamsten Blickwinkeln heraus gefilmt.– Cineman-Filmkritikerin Gaby Tscharner Patao

«Anatomie eines Skandals» kommt aus demselben Haus wie «Pretty Little Lies» oder «The Undoing». Basierend auf dem Roman von Sarah Vaughan beleuchten die Autoren David E. Kelley und Melissa James Gibson («House of Cards») die korrupten Schattenseiten der britischen Elite, die sich seit ihren Studienzeiten an exklusiven Universitäten wie Oxford oder Cambridge gegenseitig den Rücken stärkt und vergangene Indiskretionen zu vertuschen hilft. Während die zuvor erwähnten Shows zwar auch ihre Probleme hatten, waren sie zumindest enorm geniessbar und gehören zu den erfolgreichsten Streaming-Serien.

Josette Simon als Richterin im Fall James Whitehouse © Netflix

Kein Wunder also, dass «Anatomie eines Skandals» grosse Namen wie Sienna Miller («Alfie», «American Sniper») oder Michelle Dockery («Downton Abbey»), die im Prozess gegen Whitehouse die Staatsanwältin spielt, anzog. Nur nicht alle von Kelleys Drehbüchern sind von gleicher Qualität. Einzeiler, von James gesäuselt, wie «Wenn die Zukunft dich nicht einschliesst, Sophie Whitehouse, dann ist die Zukunft Scheisse» oder «Du denkst wie ein Dichter, die Politik kann immer mehr Poesie brauchen.» Niemand spricht im wahren Leben so.

Die Arroganz vieler Reicher und Privilegierter wird heute, dank den #metoo und «Black Lives Matter» Bewegungen, hinterfragt und wenn sie die Grenzen des Legalen überschreiten, auch strafrechtlich verfolgt.– Cineman-Filmkritikerin Gaby Tscharner Patao

Die Regisseurin S.J. Clarkson, die sich mit anderen britischen Netflix Shows wie «Collateral» einen Namen gemacht hat, und ihr Chef-Kameramann Balazs Bolygo («World War Z») haben grosse visuelle Ambition und die beweisen sie von Anfang an und oft zur gleichen Zeit. Die Jahrhunderte alte Architektur Londons wird entweder wie in einem Tourismus Video zelebriert oder aus den seltsamsten Blickwinkeln heraus gefilmt. Es gibt kaum eine Einstellung, die nicht mit einer schrägen oder Kopf stehenden Kamera beginnt und Bolygos Vorliebe scheint auch der Kamera an der Decke von Treppenhäusern und der Fischauge-Linse zu gelten. Die langatmigen Zeugenaussagen werden entweder durch Mosaik-Glasfenster gefilmt, oder sie werden im Zeugenstand durch sinnloses Umdrehen der Schauspieler mit Rückblenden vermischt, die beim Zuschauer Schwindelgefühle aufkommen lassen. Die Kamera ist ständig wahrnehmbar, was wohl davon ablenken soll, dass das Drehbuch unsere Konzentration nicht halten kann.

James Whitehouse und Ehefrau Sophie auf dem Weg in den Gerichtssaal © Netflix

Wie spannend Gerichtsdramen sein können, haben Filme wie Aaron Sorkins «Eine Frage der Ehre» oder Billy Wilders «Zeugin der Anklage» bewiesen. «Anatomie eines Skandals» hat gute Ansätze. Die Arroganz vieler Reicher und Privilegierter wird heute, dank den #metoo und «Black Lives Matter» Bewegungen, hinterfragt und wenn sie die Grenzen des Legalen überschreiten, auch strafrechtlich verfolgt. Gibson und Kelley bringen aber in der Mitte der Serie eine derart haarsträubende Handlungswende ein, dass es uns bald nicht mehr interessiert, ob James Whitehouse schuldig gesprochen wird oder nicht. Denn der glaubt, wie viele andere Privilegierte, über dem Gesetz zu stehen. Der Skandal ist, dass David E. Kelley mit einem derart mittelmässigen Drehbuch davonkommen könnte.

2 von 5 ★

«Anatomie eines Skandals» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.

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