Critique15. März 2022 Cineman Redaktion
Netflix-Kritik «The Andy Warhol Diaries»: Seine 15 Minuten sind noch nicht um
Eine sechsteilige Netflix Dokumentarserie, basierend auf Andy Warhols Tagebüchern, ist eine Feier des Lebenswerks des Künstlers, aber auch eine tief traurige Studie des Mannes.
Filmkritik von Gaby Tscharner Patao
«In der Zukunft wird jeder 15 Minuten Weltruhm erlangen». Das ist Andy Warhols berühmtes Zitat aus dem Jahre 1968, das unsere heutige Welt der Social Media Influencer und TikTok Sternchen voraussagte. Warhol ist einer der bekanntesten amerikanischen Künstler der Moderne. Seine Bilder von Campbell’s Suppendosen oder Porträts von Marylin Monroe sind weltbekannt, aber der Privatmann Andy Warhol bleibt ein Rätsel.
Die sechsteilige Dokumentation «The Andy Warhol Diaries» auf Netflix wirft nun einen ausgedehnten Blick hinter die Kulissen des Privatlebens des Künstlers. Während zehn Jahre diktierte Warhol seiner Freundin, der freischaffenden Autorin Pat Hacket, seine manchmal tiefen und gelegentlich banalen Gedanken, die 1989, zwei Jahre nach Warhols Tod, als 1200 Seiten umfassende Tagebücher veröffentlicht wurden und dem Dokumentarfilmer Andrew Rossi und Produzenten Ryan Murphy als Vorlage für seine Dokumentarserie dienten.
Die Dokumentarserie zeigt schmerzhaft auf, wie sehr Warhol nach deren Anerkennung und Akzeptanz lechzte.
Geboren als Andrew Warhola, Sohn von österreichisch-ungarischen Immigranten im konservativen und streng katholischen Teil von Pittsburgh, zieht der junge Mann 1948 nach New York, wo er zunächst als Grafiker der für Modemagazine Schuhe zeichnete, Erfolge feiert. Warhols Siebdruck Bilder von Campbell’s Suppendosen, Coke Flaschen oder 100 Dollar Noten machten ihn zu Beginn der 60er-Jahre enorm populär. Schon früh in seiner Karriere gründete er «The Factory», ein queeres Refugium für die Avantgarde der New Yorker Untergrundszene, wo er Bands wie «The Velvet Underground» förderte und wo er die Siebdruck Porträts der Schönen und Reichen der New Yorker High Society, laut dem Musiker John Cale, «wie am Laufband» produzierte.
Aber, Warhol fühlte sich nie Teil der High Society, die seine Kundschaft ausmachte. Die Dokumentarserie zeigt schmerzhaft auf, wie sehr Warhol nach deren Anerkennung und Akzeptanz lechzte: «Von 400 geladenen Gästen sind nur sechs aufgetaucht», hielt er nach der Vernissage seiner «Shadows» Ausstellung fest. «386 meiner besten Freunde kamen also nicht.» Ausserdem war er gegen den Klatsch der Schickimicki Gesellschaft, mit der er sich umgab, nicht immun. «Rene Ricard sagte, meine Arbeit sei nur noch dekorativ und dass Jackie O meinte, ich sei nicht mehr Avantgarde. Das hat mich so wütend gemacht, dass ich ihn angeschrien habe. Alle haben mein wahres Ich gesehen.»
Die Filmemacher illustrieren die Tagebücher mit unterhaltenden Anekdoten, erzählt von vielen berühmten Freunden Warhols, wie Model Jerry Hall, die ein Geheimnis über seine Celebrity Porträts verrät, oder Schauspieler Rob Lowe, dessen Film «The Outsiders» zu Warhols Favoriten gehörten. Die Kuratoren des «Andy Warhol Museum»s präsentieren unter anderem eine Sammlung seiner Toupets, die in allen Schattierungen von Silber vorkommen, nur mit Handschuhen angefasst werden dürfen und offenbaren, dass sich der Künstler seiner frühen Glatze und seiner dicken, geröteten Nase ständig geschämt habe. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz wurde dem verstorben Künstler eine artifizielle Stimme gegeben, die Auszüge aus den Tagebüchern liest. Die KI-Stimme ähnelt der monotonen Sprechweise des Künstlers zwar, sie verleiht dem Projekt aber eine seltsam makabre Qualität.
Diese Serie ist die Feier des Lebenswerks und eine tief traurige Studie des Mannes Andy Warhol.
Viel Zeit widmet die Serie auch Warhols möglichen intimen Beziehungen. Möglich deshalb, weil sich der Künstler in der Öffentlichkeit als asexuell beschrieb. Eine erste seiner Schlüsselbeziehung, die in den Tagebüchern ausführlich thematisiert wird, ist die zu Jed Johnson, der zunächst als Bodenleger in «The Factory» arbeitete. Nachdem Warhol 1968 von Valery Solanas, einer Schauspielerin in seinem Film «I, a Man» angeschossen wurde, übernahm Johnson die Rolle als Pfleger und wurde Warhols Partner. Die zweite Beziehung war die zu Jon Gould, einem Direktor bei Paramount Pictures, der seine Homosexualität aber geheim halten wollte. In den 80er-Jahren fühlte sich ein alternder Warhol von der Jugend und dem Esprit von Graffiti Künstlern in New York inspiriert. Als ihn der Schweizer Gallerist Bruno Bischofberger mit dem jungen Jean-Michel Basquiat bekannt machte, wurde eine gegenseitige Bewunderung entfacht, die eine kreative Zusammenarbeit inspirierte. Ob die beiden auch intim befreundet waren, darauf haben weder die Tagebücher noch der Dokufilm eine Antwort.
Warhol war bildender Künstler, Verleger, Musikproduzent, Mäzen und viele Dinge mehr. Nur wenige Persönlichkeiten haben zu Lebzeiten den Kultstatus erreicht, den Andy Warhol noch heute hat. Die Dokumentarserie ist ein Wechselbad von faszinieren und banalen Fakten, von denen wir uns fragen, ob Warhol wollte, dass die ganze Welt sie erfährt. Was jedoch klar aus den Tagebüchern hervorgeht, ist, dass sich Warhol oft missverstanden, unterschätzt und meist sehr alleine fühlte. Diese Serie ist die Feier des Lebenswerks und eine tief traurige Studie des Mannes Andy Warhol.
4 von 5 ★
«The Andy Warhol Diaries» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.
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