Critique4. Februar 2020 Michelle Knoblauch
Sky-Show-Kritik «Gentleman Jack»: Eine Historienserie über die erste “moderne Lesbe”
Wäre sie ein Mann gewesen, hätte man sie als Frauenheld, Heiratsschwindler oder Lüstling betitelt: Das durch einen Geheimcode verschlüsselte Tagebuch von Anne Lister gilt als eines der lebhaftesten literarischen Zeugnisse des frühen 19. Jahrhunderts im nördlichen England. Sally Wainwright hat daraus eine Mini-Serie gemacht, die ab sofort auf Sky Show zu sehen ist.
Die Gutsbesitzerin und Industrielle Anne Lister (Suranne Jones) kehrt nach einer jahrelangen Reise, einem sozialem Aufstieg und einer gescheiterten Liebe 1832 zurück in ihre Heimat, wo sie sich schliesslich dazu entschliesst, den Besitz ihrer Vorfahren, Shibden Hall in Halifax, zu übernehmen. Die Ausgangslage ist nicht die Beste, ihre Tante (Gemma Jones) und der fast taube Vater Jeremy (Timothy West) sind überfordert, worauf sie selbst ihre Ärmel hochkrempelt.
Sie wandelt die Besitztümer um und entlässt jahrelange Pächter aus ihrem Pachtvertrag, um die Grundstücke mit jungen Familien gewinnbringender bewirtschaften zu können. Anne stellt sich als knallharte Verhandlungspartnerin heraus, die ein altertümliches Klassenbewusstsein vertritt. Und das, obwohl sie sich für das Wahlrecht der Frauen einsetzt. Neben ihren Besitztümern und dem eigenen Gut sitzt sie auf einer vor Jahren geschlossenen Kohlemine, die ihr ein grosses Vermögen einbringen könnte – doch auch hier muss sie es mit der von Männern dominierten Welt aufnehmen und um ihr Recht und die eigenen Besitze kämpfen.
Da es Frauen zu dieser Zeit noch nicht erlaubt war zu studieren, haben ihr befreundete Wissenschaftler im Ausland privaten Unterricht in Anatomie und Geologie erteilt. Mit diesen Kenntnissen gelingt es Anne Lister immer wieder, anderen Menschen zu helfen und sich nicht übers Ohr hauen zu lassen, was ihr eine gewisse Art an Selbständigkeit verleiht: So beispielsweise in ihrer Beziehung zu ihren Konkurrenten, den beiden industriellen Brüder Rawson.
Nebst der Rivalität in der Industrie geht es in der Mini-Serie hauptsächlich um ihre Liebschaften mit anderen Frauen, vor allem jedoch um ihre Beziehung zu Ann Walker (Sophie Rundle). Mrs. Eliza Priestley (Amelia Bullmore), eine Bekannte von Anne, macht sie mit ihrer Cousine Ann Walker bekannt, die ebenfalls Gutsbesitzerin ist. Anne Lister macht es sich von nun an zur Aufgabe, Miss Walker zu umgarnen, um sie zur Frau nehmen zu können.
Trotz oder gerade wegen ihres hohen Rangs in der Gesellschaft konnte im 19. Jahrhundert noch nicht an ein offenes Ausleben ihrer Homosexualität gedacht werden – zumal auch ihre ehemalige Geliebte Lady Vere Cameron (Jodhi May) sich aus ökonomischen Gründen mit einem Mann verheiratete. Dass Anne Lister (1791-1840) auf eine aufgeklärte Nachwelt hoffte, lässt sich daraus ableiten, dass sie ihr Intimleben in den Tagebüchern in Codes niederschrieb, welche erst rund zwei Jahrhunderte später geknackt werden konnten.
Ich kenne mein eigenes Herz und verstehe meinen Mitmenschen. Aber ich bin gemacht wie niemand, dem ich jemals begegnet bin. Ich wage zu sagen, dass ich wie niemand auf der ganzen Welt bin.
Die Erzählungen um Anne Lister werden in viele kleine nebeneinander laufende Geschichten aufgeteilt, die in einem hohen Tempo erzählt werden. Dies wird auch an der Gangart und den Bewegungen von Anne deutlich: Es scheint, als bewege sie sich in einem viel schnelleren Tempo als ihre Umwelt.
Immer wieder werden direkte Zitate Listers aus deren Tagebüchern eingefügt. Um Anne Lister zwischen den Zeilen zu verstehen wird, zu Beginn ganz subtil, dann immer offensiver, ein ursprünglich aus dem Theater stammendes Stilmittel des Beiseitesprechens in die Verfilmung aufgenommen: Das Direkt-in-die-Kamera-Sprechen als kurze aber vergewissernde Kommunikationsaufnahme mit den Gleichgesinnten – dem Zuschauer.
Als musikalisches Thema der Serie wurde der bereits 2012 geschriebenen Song “Gentleman Jack” des britischen Folk-Duos O’Hooley & Tidow gewählt. Ein Musikstück, das im Stil eines in Liedform vorgetragenem Gedicht das Leben von Anne Lister in lebhaften Versen wiedergibt:
"Behind her back she's Gentleman Jack – A Yorkshire lady of reknown – Ever so fine – Won't toe the line – Speak her name, gentlemen frown"
"Gentleman Jack Oh Gentleman Jack – Watch your back you're under attack – The husbands are coming – You'd better start running – For nobody likes a Jack-the-lass"
Die Serie wurde hauptsächlich in Halifax und West Yorkshire gedreht, wobei eine grosse Anzahl an Szenen am Originaldrehort aufgenommen wurde: In Anne Listers Zuhause, dem bereits über 600 Jahre alten Haus Shibden Hall. Dies verleiht der Serie ein ganz besonderes Flair. Nicht nur, weil die atemberaubenden Kulissen und die Kostüme in viktorianischem Stil einen die Gegenwart vergessen lassen.
Surrane Jones schafft es, dem Zuschauer ihre Figur "Gentleman Jack" auf eine aufgeschlossene und amüsante Art vorzustellen und die Welt aus den Augen von Anne Lister aufzuzeigen. Der direkte Blick in die Kamera und das Sprechen mit den Zuschauern verstärkt die Sympathie mit Anne. Zudem können so auch Tagebuchzitate von Anne direkt mit eingebaut werden. Die Autoren machen diesen «Gentleman Jack» in den ersten zwei für diese Kritik vorliegenden Folgen ohne Zweifel zu einer der faszinierendsten Frauenfiguren vergangener Zeit. Ob sich die Faszination für diese Figur bis ans Ende der Serie halten kann, wird sich zeigen.
4 von 5 ★
Die ersten zwei Folgen von «Gentleman Jack» sind ab sofort auf Sky Show zu sehen, danach wird jeweils am Mittwoch eine neue Doppelfolge veröffentlicht.
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