Article8. August 2018 Julian Gerber
Yolande Zauberman: «Ich mache keine Filme über Opfer – sondern über Helden»
In «M», einer Auseinandersetzung mit der jüdischen Haredim-Gemeinde in Bnei Brak, einer der ärmsten und am dichtesten bevölkerten Städte Israels, geht es um sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Der Film feierte im Internationalen Wettbewerb des Locarno Festival seine Premiere. In der Pressekonferenz erzählte Regisseurin Yolande Zauberman über ihren Zugang zum Thema und ihre Arbeitsweise.
Von Katja Zellweger vom Locarno Festival
Ein Teufelskreis, der aus Opfern Täter macht
Der Titel von Yolande Zaubermans neuestem Werk steht für den Namen Menahem Lang (und erinnert auch inhaltlich an Fritz Langs «M», worin ein Kindermörder gejagt wird). Menahem bezeichnet sich auf Jiddisch und mit einem umwerfenden Strahlen, das sich nicht mit den traurigen Augen verträgt, als «Porno Kid». Er habe ab dem siebten Lebensjahr als Sexualpartner «just for fun», also «nur zum Spass», seinen Rabbis hinhalten müssen. Schon fast aggressiv offen und teilweise ziemlich ungefiltert rasseln Beschuldigungen und Erzählungen aus ihm hinaus. So sagt er auch, dass er die liebevollen Berührungen teils sogar gewollt habe, weil sie zu Hause fehlten.
Lang, der die orthodoxe Haredim-Gemeinde in Bnei Brak vor 15 Jahren verliess und Schauspieler wurde, hat ein Gespür dafür, solche Vergewaltigungsgeschichten und Geständnisse auch Unbekannten zu entlocken, was oft in einer Art spontanen Gruppentherapie-Situation endet. Es geht um den Teufelskreis, in dem aus Opfern Täter werden. Menahems Story, so die traurige Erkenntnis des Films, ist alles andere als ein Einzelfall. Das ans kollektiv Pathologische grenzende Missbrauchssystem innerhalb der stark geschlechtergetrennten jüdisch-orthodoxen Haredim-Gemeinde durch das Reden vor der Kamera ans Licht zu bringen, ist der wesentliche Verdienst des Films.
Spontanität als Erfolgsrezept
Wie solche Gespräche vor der Kamera entstehen, das hat Regisseurin Yolande Zauberman, eine erfahrene Dokumentarfilmerin, an der Pressekonferenz nach der Weltpremiere in Locarno erörtert. Sie versuche keine Vorgespräche zu führen und von Anfang an zu filmen. Nie, das betont sie, arbeite sie bei Dokumentararbeiten mit Skripts. Ihre Interviews und Szenen basieren auf der Unmittelbarkeit der Antworten und der Bereitschaft ihrer Protagonisten, sich spontan zu äussern. Selten hake sie mit einer Frage nach.
Sie weiss also nicht, was vor ihrer Kamera gesagt wird, bis es raus ist. Ein Freund Menahems aus Kindertagen sei beispielsweise beim Dreh oft anwesend gewesen und habe anfangs nicht sprechen wollen. Eines Tages aber sei aus ihm herausgebrochen, was Zauberman jetzt zu einer Schlüsselszene ihres Films zählt. Darin erzählt er Menahem, wie er seinem Vater, der ihn missbraucht hat, an dessen Sterbebett verziehen habe.
Keine Opfer, nur Helden
Angesprochen auf die Missbrauchsrate an ihrem Drehort, Bnei Brak, zeigt sich Zauberman zurückhaltend. Sie will, was angesichts der Betroffenheit, die der Film «M» auslöst, irritiert, das Problem der Vergewaltigung von Kindern nur ganz global verstehen. Bnei Brak schildert sie auch sehr positiv. Sie schwärmt von den offenen, gesprächigen Menschen, von einer «nicht bourgeoisen, sonder eher hippiemässigen» Stimmung, von reformfreudigen jungen Menschen, vom Stadtleben insbesondere auch in der Nacht und der jiddischen Sprache, die sie auch selber spricht.
Wenn es aber um die Protagonisten geht, könnte Zauberman nicht klarer sein: «Ich mache keine ambivalenten Filme über Opfer. Ich sehe sie als Helden.» Gerade beim Thema Missbrauch hätte sie oft ans Credo ihrer Grossmutter denken müssen: «Nichts machen heisst nicht sprechen, und daran krepiert man.»
Der vorliegende Artikel entstand im Kontext der Locarno Critics Academy
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