Nach der Geburt ihres ersten Kindes taucht Diane in einer unbekannten Stadt unter. Aber ihr Körper erinnert sie, wovon sie geflohen ist. Im Film LES PARADIS DE DIANE geht es um eine Frau, die sofort nach der Geburt abtaucht und vor ihrer Mutterrolle flieht. Im Interview erzählt das Regie-Duo Carmen Jaquier & Jan Gassmann wie ihr Film entstanden ist, wie ihre Zusammenarbeit während der Dreharbeiten war und inwiefern LES PARADIS DE DIANE auch politisch und subversiv ist. Das Interview führte Lilith Grasmug (Quelle: Outside the Box).
In LES PARADIS DE DIANE geht es um eine Frau, die sofort nach der Geburt vor ihrer Mutterrolle flieht. Wie ist der Film entstanden?
Carmen Jaquier : Die Idee zu dem Film enstand, als ich erfuhr, dass eine enge Freundin nach der Geburt ihrer Tochter lange an einer Depression gelitten hatte. Dies hatte sie jahrelang verschwiegen, weil sie sich dafür schämte, dass sie ihr Baby nicht sofort lieben konnte. Ihr Geständnis hat mich tief berührt. Ich fand, es war an der Zeit, das Thema Mutterschaft in seiner Gesamtheit als politische, philosophische und ästhetische Erscheinung zu betrachten. Ich begann also, die wenigen Artikel und Bücher zu post-partalen Leiden und besonders zur Frage von „regretting motherhood” zu lesen. Zu dieser Zeit wurde das Thema erst in Ansätzen in der Öffentlichkeit diskutiert.
Jan Gassmann : Carmen gab mir im Jahr 2017 eine frühe Version des Drehbuchs zum Lesen. Sie entdeckte gerade meine Filme. Obwohl wir seit zwei Jahren zusammenlebten, hatten wir aus irgendeinem mysteriösen Grund noch nicht die Filme des anderen gesehen. Durch die Vertiefung in die Arbeit des Andern - Carmen mit ihrem visuellen Erzählstil, ich mit meinem Ansatz, die Realität und Fiktion zu verbinden – entstand der Wunsch, an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Gemeinsam führten wir Interviews und sammelten etwa fünfzig erschütternde Berichte von Frauen, in denen diese über einen emotionalen und physischen Schock sprachen, die Diskrepanz zwischen dem mütterlichen und dem sexuellen Körper und einem Gefühl immenser Einsamkeit. Ich erinnere mich, wie es mich berührte, als uns eine Frau anvertraute, dass es ihr in der Geburtsabteilung an Mut gefehlt hat. Sie dachte, da ihr Kind dort in guten Händen war, hätte sie weit weggehen sollen... Wir wollten für das geheime Gedankenspiel ein Kind zu verlassen, eine filmische Übersetzung schaffen.
Wie verlief die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden während der Dreharbeiten?
C.J. : Es war eine besondere Erfahrung, eine Crew gemeinsam zu führen. Es war ungewohnt, dass plötzlich zwei Personen Entscheidungen treffen und manchmal auch gegensätzlicher Meinungen sind...
J.G : …Und die Zweifel haben. Ich glaube aber, dass wir ein gemeinsames Ziel verfolgten und ehrlich miteinander umgegangen sind. Die meiste Zeit wussten wir vor dem Drehen einer Szene, wer sich auf die Bildgestaltung konzentrieren und wer die Schauspieler führen würde. Manchmal aber tauschten wir mitten in der Szene die Rollen. Dafür braucht es Vertrauen, eine lange gemeinsame Vorbereitung und eine klar definierte visuelle Auflösung. Auch haben wir gemeinsam immer wieder Filme geschaut, die uns inspirieren, wie THE RAIN PEOPLE, SUE ALONE IN MANHATTAN, WENDY AND LUCY oder LES RENDEZ-VOUS D'ANNA...
C.J : Wenige Wochen nach Drehschluss kam Corona. Wir haben danach beide jeweils einen Film gedreht (bei Carmen Jaquier war es FOUDRE, bei Jan Gassmann 99 MOONS, die beide 2022 erschienen), bevor wir mit der Postproduktion von LES PARADIS DE DIANE begannen. Zwei Jahre nach dem Dreh sassen wir im Schneideraum und waren nicht mehr dieselben Menschen. Wir haben den Film mit anderen Augen gesehen.
Der Film ist politisch und subversiv. Mutterschaft wird als etwas dargestellt, das nicht vorherbestimmt, angeboren oder natürlich ist. Der Film greift den Mythos Familie an.
J.G : Mit LES PARADIS DE DIANE wollten wir einen anderen Blickwinkel entwerfen, eine andere Sprache als die medizinische. Die Begriffe „Baby-Blues” und „postpartale Depression” sind ungenaue Konzepte, die an Krankheiten denken lassen und die Schuld oft den Müttern zuschieben. Wir wollten die Trennung vom Kind und den Umgang mit Mutterschaft auf andere Weise beleuchten.
C.J. : In unserer Gesellschaft verinnerlichen Frauen sexistische Normen ziemlich früh. Die Geburt eines Kindes kann die mit dem Gender verbundenen Frustrationen, Restriktionen und sozialen Differenzen aufzeigen. Eine Schwangerschaft kann der Moment sein, an dem sich Menschen dieser Ungleichheiten bewusst werden. Wir wollten die Geburt als Katalysator einer plötzlichen und schmerzhaften Erkenntnis betrachten. Der Erkenntnis, die Mutterrolle abzulehnen.
«In unserer Gesellschaft verinnerlichen Frauen sexistische Normen ziemlich früh. Die Geburt eines Kindes kann die mit dem Gender verbundenen Frustrationen, Restriktionen und sozialen Differenzen aufzeigen».
Der Vater und das Kind tauchen die meiste Zeit nicht im Film auf. War das eine Entscheidung, die von Anfang an feststand?
J.G. : Ja, von Anfang an. Wir wollten Diane nicht vordergründig in ihrer Beziehung zu ihrem Partner und ihrem Kind zeigen, sondern vielmehr als eigenständige Person. Martin und das neugeborene Kind sind durch ihre Abwesenheit präsent. Sie umhüllen sie wie einen Schleier, den sie nicht abschütteln kann. Wir wollten eine Figur zeigen, die zuerst sich selbst retten muss, bevor sie sich um andere kümmern kann. In meinen Augen ist dies eine beschützende Geste gegenüber den Menschen, die sie liebt – ein wahrhaft mutiger Schritt.
Ich glaube, man sollte die Kamera immer in Richtung dessen richten, was im Film noch nicht gezeigt wurde. Ein Film über einen heldenhaften Vater, der sich um seine Tochter kümmert, nachdem sie verlassen wurden, würde nur bestehende Strukturen verstärken.
C.J : Der Film stellt auch die Frage, ob wir es schaffen können, unseren Stolz zu überwinden. Die Figur von Dianes Partner, Martin, steht für die Möglichkeit, das Konstrukt Familie in Frage zu stellen und anders zu leben. Er erkennt, dass er wenig Einfluss auf die Entscheidung seiner Partnerin hat. Im selben Atemzug wird ihm auch klar, wie sehr er Diane liebt.
Der Film führt uns aus der Schweiz nach Spanien und zurück. Inwieweit sind diese Orte Ausdruck von Dianes innerer Reise und ihrer Zerrissenheit?
J.G. : Wir wollten den Kontrast zwischen zwei unterschiedlichen Städten nutzen. Zürich, Ort des organisierten Familienlebens, und Benidorm... Ein Ort des Überflusses. Paradies der Billigreisen und All-you-can-eat-Buffets. Mehrere britische Soaps wurden in Benidorm gedreht, Martin Parr veröffentlichte eine Fotoserie über die Stadt. Für uns steht dieser Ort exemplarisch für das Ende eines Ideals; nämlich von Europa und seinem Traum des grenzenlosen Konsums. Diesen Schauplatz wollten wir in Beziehung zu Dianes Flucht setzen.
In Benidorm macht die Figur eine Wandlung durch.
C.J. : Es ist ein Ort, den man aufsucht, um zu verschwinden, sich zu vergessen oder zu sterben. Diane findet sich in diesem Paralleluniversum wieder und sieht die Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Wir suchten eine Stadt, in der Diane ihre verschiedenen Identitäten, die durch die Geburt ihres Kindes scheinbar fragmentiert wurden, wieder vereinen konnte. Die Architektur dieser Stadt mit ihrer Skyline schien uns als Kulisse für diese Identitätskrise geeignet.
J.G. : Zusammen mit dem Kameramann Thomas Szczepanski entschieden wir uns, einen «romantischen» und wohlwollenden Blick auf Benidorm und seine Bewohner zu werfen.
Es ist ein Ort, der uns auf gewisse Weise daran erinnert, dass wir oft damit beschäftigt sind, eine Rolle zu spielen – sei es diejenige, die wir sind, oder die, die wir gerne wären. Und diese Künstlichkeit führt zu Momenten der Verletzlichkeit und Wahrheit.
Dorothée de Koon ist Musikerin. Wie kam es, dass sie die Hauptrolle übernahm?
C.J : Das ist Dorothées erste grosse Rolle. Unsere französische Co-Produzentin, Camille Genaud, schlug vor, sie zu treffen. Von den ersten Proben an hat sie uns überzeugt. Dorothée hat das vertraute Gesicht einer Nachbarin, aber auch diese besondere Ausstrahlung, die uns sofort in ihren Bann gezogen hat. Ihr Spiel ist einfach, konkret und natürlich und doch nimmt es uns auf eine weite Reise mit. Diese leichte, poetische Verschiebung innerhalb der Realität, die ihr gelingt, passt hervorragend zum Film, der stellenweise die Psychologie beiseite lässt und uns überrascht.
Darüber hinaus konnten Sie Aurore Clément für die Rolle der Rose gewinnen.
J.G. : Ihre Begeisterung für unser Projekt und unsere Arbeitsweise im kleinen Team war ein grosses Geschenk. Für die Rolle der Rose wollten wir eine Schauspielerin, die dem Film etwas Geheimnisvolles verleiht. Das kann Aurore Clément. Als mysteriöse Schauspielerin, die Frankreich verliess, um in die USA zu gehen, verkörpert sie auch ein Stück Filmgeschichte. Ihre Art zu sprechen in LES RENDEZ-VOUS D'ANNA von Chantal Akerman begeistert uns immer wieder. Wir wollten, dass der Film diese besondere Atmosphäre erhält, die sie durch ihre Präsenz mitbringt.
Diane und Rose erscheinen manchmal wie zwei Facetten derselben Figur. Wie sind Sie das Spiel mit der Dopplung angegangen, den Gedanken, dass jemand zum Ersatz des anderen wird?
C.J. : Wir ließen uns von der Arbeit von Annie Ernaux inspirieren, besonders von ihrem Buch Les Années, um Figuren zu gestalten, die sich widerspiegeln. Wir hatten den Wunsch, mit parallelen Zeiten zu spielen, Schicksale von Frauen zu überlagern, die mit ihren Töchtern brechen; dieselbe Person an zwei verschiedenen Momenten in ihrem Leben. Uns gefiel die Idee, eine Art Mutter-Tochter-Beziehung zwischen zwei Figuren zu zeigen, die nicht blutsverwandt sind. Der Film möchte so auch zeigen, wie man Familie anders denken kann.
Es ist faszinierend zu sehen, wie ein intimer Film den öffentlichen Raum als Kulisse nutzt. Das Werkzeug dazu ist der Körper von Diane…
C.J. : Diane stellt sich anderen Menschen, sie wirft sich in die Menge, weil sie das Bedürfnis hat zu spüren, dass sich etwas in ihr bewegt. Sie ist von einem Gefühl des Widerstands erfüllt, für das sie keine Worte hat. Also findet ihr Körper einen Ausdruck dafür.
J.G. : Von Anfang an stellen wir den Körper in den Vordergrund. Das zeigt sich insbesondere indem wir mit rohen Bildern die Geburt und den sich verändernden Körper filmen. Uns war es wichtig, eine physische Präsenz des Körpers zu vermitteln, anstatt uns lediglich auf eine psychologische Beziehung zur Figur zu beschränken.
C.J. : Diane erlebt auch tatsächliche physische Berührungen und Zärtlichkeiten mit den Menschen, denen sie begegnet. Es schien uns wesentlich zu zeigen, dass sie fähig ist, mit Menschen zusammen zu sein und Liebe zu empfinden und zu geben, auch wenn sie nicht Mutter sein will oder kann. Dass sie sich um andere kümmern kann.
Der Film ist von einer schwebenden Atmosphäre durchdrungen, wie die Darstellung eines posttraumatischen Zustands. Wie habt ihr die Musik und die Tongestaltung erarbeitet?
J.G. : Carmen schwebten schon seit der ersten Drehbuchfassung Blasinstrumente vor, insbesondere die Klarinette. Im Schnitt haben wir uns an einem Stück der Experimentalmusikerin Lea Bertucci orientiert. Wir lieben die Zerbrechlichkeit ihres Motives, diese unterdrückten Emotionen, wie eine diffuse, grollende Wut, die zu implodieren droht. Der Komponist Marcel Vaid hat dieses Material zusammen mit dem norwegischen Trompeter Nils Petter Molvær weiterentwickelt. Die Trompete wurde zu Dianes Stimme.
C.J. : Das Schaffen einer abstrakten, traumhaften Klangwelt half der Struktur des Films, dem Erlebnis eines Fiebertraums. Dies wollten wir mit unserer Sounddesignerin Mélia Roger erreichen.
LES PARADIS DE DIANE ist das Porträt einer Frau in einem existenziellen Moment ihres Lebens. Der Film öffnet die Diskussion über die mit Mutterschaft und dem Frau-Sein verbundenen Zwänge und Erwartungen. Was haben Sie auf diesem Weg gelernt?
J.G. : Diesen Film zu drehen, Bilder zu suchen, um Dianes Gefühle so nah wie möglich zu erzählen, hat uns zweifellos empathischer und offener dafür gemacht, dass die Erfahrung eines anderen uns einen neuen Blickwinkel auf unser eigenes Leben einnehmen lässt.
C.J. : LES PARADIS DE DIANE wurde geschrieben, als wir noch keine persönlichen Erfahrungen mit Schwangerschaft, Geburt oder der Ankunft eines Kindes in unserem Leben hatten. Während der langen Finanzierungsphase wurde ich dann schwanger, und nach der Geburt begannen wir Tag für Tag, eine Verbindung zu diesem Neugeborenen zu entdecken. Von da an mussten wir unsere persönliche Verbindung zum Film, zu Diane und ihrer Reise neu überdenken.
Der Film ist schwindelerregend an dieser Stelle, denn er endet mit der Idee, dass etwas neu erfunden werden muss.
Das Interview wurde von Lilith Grasmug geführt. Genf, 7. Dezember 2023.
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