Der Bahnsteig China, Frankreich, Hongkong, Japan 2000 – 154min.

Filmkritik

Kommunistenkleidung versus Schlaghose

Filmkritik: Andrea Bleuler

Der 32-jährige Jungregisseur Jia Zhang-Ke beschreibt durch die zehnjährige Geschichte einer Wander-Schauspieltruppe die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen Chinas nach Maos Tod. Mit seinem Porträt über das grosse Jahrzehnt des Umbruchs korrigiert der Mitbegründer der "Youth Experimental Film Group" aber auch die offizielle Geschichtsschreibung.

Es sind die Jungs aus der Theatertruppe, die es in den späten siebziger Jahren in der Kleinstadt Fenyang als Erste wagen, modische Schlaghosen zu montieren - nicht etwa gekaufte, sondern solche, die ihre Mütter widerwillig individualistisch frisiert haben. Auch drei Jahre nach Maos Tod sind im Landesinnern erst zaghafte Veränderungen spürbar. Die Freiheit des Einzelnen wird in kleinen Revolutionen erforscht; Zuspätkommen wird aber immer noch als Verstoss gegen die Gemeinschaft gehandelt.

Nicht zuletzt durch die stolze Länge des Werks wird dem gehetzten Westler ein Gefühl dafür vermittelt, wie langsam diese Entwicklung - weg von der kommunistischen Tradition hin zu einem modernen China inklusive Verlockungen aus Taiwan, Japan, den USA und Europa - vor sich geht: Den Titel für seinen Film hat der Regisseur von einem (Rock-) Song aus den frühen achtziger Jahren übernommen: "Platform - Bahnsteig" - steht einerseits für Anfang und Ende eines Weges, aber gleichzeitig auch für die lange Wartezeit, die solch grundlegende Veränderung in Anspruch nehmen. „Wir warten, alle unsere Herzen warten für immer auf dem Bahnsteig" - so lautet der Refrain.

Indem er das Zusammenleben der Truppe über Jahre verfolgt, macht Jia Zhang-Ke den Prozess auf sehr emotionaler Ebene nachvollziehbar. So wird zum Beispiel ein Liebespaar Mitte der achtziger Jahre noch aus dem Bett gezerrt und landet auf dem Polizeiposten, weil es seine Liaison nicht öffentlich deklariert hat; fünf Jahre zuvor haben zwei Turteltauben aus der Schauspieltruppe aus lauter Angst gar darauf verzichtet, ihre Beziehung wirklich zu leben. Die einfachen und einprägsamen Bilder, derer er sich bedient, sind weltweit verständlich. Sein Werk ist auch stark autobiografisch geprägt: Der Regisseur selbst hat jene Zeit, als die Erscheinung der Übersetzung von "Lady Chatterleys Lover" noch ein grosses Ereignis war, in eben dieser Stadt erlebt und Malerei an der dortigen Kunsthochschule studiert.

Weder das Drehbuch noch die Schlussfassung sind vom Staat offiziell zugelassen worden, weshalb der Film bis anhin auch nicht in China visioniert wurde. Dem ausländischen Publikum vermittelt das Werk aber vor allem ein Stück ungesehene Geschichte, wobei das gehetzte abendländische Auge über zwei Stunden mit Wortkargheit und meditativer Langsamkeit in weiten Einstellungsgrössen beglückt wird.

26.03.2002

4

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