CH.FILM

Von heute auf morgen Schweiz 2013 – 95min.

Filmkritik

Altersvorsorgen

Urs Arnold
Filmkritik: Urs Arnold

Frank Matter porträtiert vier alte Menschen, denen der Gang ins Altersheim bevorsteht. Dabei tastet er sich an die unscharfe Grenze heran, die sich zwischen Autonomie und Fremdbestimmung zieht.

Sie haben die Kriegszeit erlebt, sich nach Essensrationen ernährt. Sie sahen John F. Kennedy im TV sterben und hörten Willy Ritschards legendäre Reden. Sie zogen Kinder auf, wurden pensioniert, verloren ihre Ehepartner. Nun befinden sich Anny Fröhlich, Monique Hofmann, Silvan Jeker und Elisabeth Willen im biblischen Alter, und plagen sich mit den damit einhergehenden Gebrechen herum. Die bescheiden eingerichteten Wohnungen und Häuser sind zu ihrem primären Lebensraum geworden.

"Mir geht es gut", sagt Anny Fröhlich mit vernehmbarem Trotz in der Stimme. Ihr Temperament früherer Tage schlägt beizeiten noch durch, wogegen der stille Silvan Jeker seit dem Tod seiner Frau in Lethargie lebt. Seine Welt sieht nun das Ledersofa als Zentrum. Vor dem Altersheim an sich fürchtet er sich nicht, wohl aber vor langweiligen Menschen dort.

Monique Hofmann dagegen blüht jedes Mal auf, wenn sie die Musik von Rudi Giovannini hört. Ihr Ziel: Den Schlagersänger noch einmal live zu sehen. Doch ihr Körper ist betagt - so wie der von Elisabeth Willen, der man äusserlich ihre 95 Jahre jedoch nicht ansieht. Manchmal, so gibt sie zu, fühle sie sich einsam. Aber das Haus zu verlassen und ins Heim zu ziehen, nein, das komme überhaupt nicht in Frage.

Alte Menschen sind in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus des Kinoschaffens geraten. Verantwortlich dafür sind neuerschlossene Themenfelder, etwa Sexualität (Wolke 9), Selbsttötung (Satte Farben vor Schwarz) oder gemeinsames Wohnen (Et si on vivait tous ensemble?). Ein wesentlicher Aspekt in diesem kleinen Dammbruch ist oftmals die - schwindende - Selbstbestimmung alter Menschen. Von heute auf morgen sieht sie als zentralen Punkt.

Frank Matter nimmt sich viel Zeit, uns in den Lebensraum und das Umfeld dieser vier Menschen einzuführen. Dabei spart er bewusst die Biografien bis auf wenige Details aus, um den Film nicht zu stark von der Gegenwart wegzuführen. Seine Protagonisten verlässt Matter nur, um in der lokalen Spitex-Zentrale in Allschwil-Schönenbuch die Arbeitsabläufe aufzuzeigen. Dabei offenbart die gestiegene Arbeitsbelastung eine negative Wandlung, die grundsätzlich auf die Überalterung in der Schweiz zurückzuführen sind.

Diese Materie würde man gerne vertieft sehen – bedeutet hätte es jedoch einen grösseren Abstand zu den porträitierten Menschen. Den gesteht Matter nicht ein, auf das Risiko, dass er seinen Film dann und wann der Langeweile preisgibt. Die unspektakuläre, aber sicherlich inhaltsgerechte Machart des Dokumentarfilms schafft da keine Abhilfe. Doch überwiegt schlussendlich die entwaffnende Offenheit dieser Personen, die - man darf es vorweg nehmen - am Ende nicht alle umziehen müssen.

29.04.2024

3

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Kommentare

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jeiziner

vor 10 Jahren

noch mehr hochachtung, vor dem was pflegefachpersonen leisten!


katja.kessler@gmx.cg

vor 11 Jahren

Toller Film!!!


mofralilu

vor 11 Jahren

Herzergreifend, lustig, ehrlich, respektvoll... ein Film mit vielen Facetten des Alters. MUST SEE!


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