Atlas Belgien, Italien, Schweiz 2021 – 88min.
Filmkritik
Zurück ins Leben
Der Eröffnungsfilm der 56. Solothurner Filmtage 2021, «Atlas», schildert, wie Allegra, eine junge Tessinerin, versucht, wieder Fuss zu fassen, nach einem tragischen Ereignis in Marrakesch. Ein intimes, eindrückliches Psychodrama des Tessiners Niccolò Castelli.
Sie sind ein eingeschworenes Team, Allegra und Benni, Sonja und Sandro. Sie sind begeisterte Kletterer (Freeclimbing) und geniessen die Freiheit hoch auf den Alpengipfeln. Die forsche Allegra (Matilda De Angelis) schlägt vor, auch mal das Weite zu suchen, das heisst fremde Berge zu erklimmen –im Atlas-Gebirge in Marokko. Doch bald wird dem Zuschauer klar, dass da etwas schief gelaufen sein muss. Denn Allegra ist eine andere geworden, verschlossen, verunsichert, verzagend – traurig.
Bei Filmhälfte erfährt man, weshalb Allegra auf Distanz gegangen ist – zu ihren Eltern, zu ihrer Freundin Giulia (Irene Casagrande), weshalb sie Menschen meidet, besonders Männer mit scheinbar nordafrikanischen Wurzeln wie den Musiker Arad. Allegra ist Opfer eines Terroranschlags in Marrakesch geworden, ihre drei Freunde starben bei diesem Bombenattentat 2011. Allegra fühlt sich mitschuldig, weil sie diese Reise vorgeschlagen hatte. Mit Hilfe einer Therapeutin versucht sie, sich wieder der Kletterei zu nähern, verzagt, verzweifelt. Erst durch die Begegnung mit nordafrikanischer Musik und dem Flüchtling und Musiker Arad (Helmi Dridi) kann sie sich allmählich von ihrem Trauma lösen.
Autor Stefano Pasetto und Filmer Niccolò Castelli («Looking for Sunshine», 2018) liessen sich vom Terrorakt in Marrakesch 2011 inspirieren. Tatsächlich kamen damals junge Tessiner ums Leben. Castelli beschreibt sehr sensibel und überzeugend, wie die junge überlebende Tessinerin aus der Bahn geworfen wurde, wie sie der Lebensmut verlassen hat, sich mit Schuld und Ängsten herumplagt. Sie setzt sich mit schönen und schmerzhaften Erinnerungen auseinander, nähert sich schier zaghaft ihren alten Vorlieben, der Musik, dem Klettern.
In der italienischen Schauspielerin und Musikerin Matilda De Agostini fand Castelli eine ideale Darstellerin, die als Shooting Star (in der HBO-Serie «The Undoing») gehandelt wird. Mit seinem zweiten Langfilm hat der 38jährige Castelli einen Film geschaffen, der manchen Zuschauer vielleicht etwas rätseln lässt, weil «Atlas» nicht fernsehgerecht alle Details ausbreitet, sondern bewusst Lücken lässt, etwa über das Attentat, über die Nebenfiguren Giulia und Arad. Die Koproduktion wurde wesentlich von Villi Hermann Imagofilm getragen, dem die diesjährige Retrospektive in Solothurn gewidmet ist.
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