Die Invasion der Barbaren Kanada, Frankreich 2003 – 99min.

Filmkritik

Gestern am Abgrund, heute einen Schritt weiter

Benedikt Eppenberger
Filmkritik: Benedikt Eppenberger

Drehte sich 1986 in Denys Arcands "Le déclin de l'empire américain" noch alles um Sex, Sex, Sex, geht es im Fortsetzungsfilm "Les invasions barbares" diesmal um das, was auf den Sex folgt: das Sterben.

Sie gefielen damals ganz gut in ihrer forcierten Verantwortungslosigkeit, die intellektuellen Männer und Frauen, welche der Frankokanadier Denys Arcand 1986 in seinem Film "Le déclin de l'empire américain" zu zwei äusserst anregenden Quasselstunden über Sex und den Untergang des Abendlandes versammelt hatte. Als Historiker hatten Arcands Protagonisten die Auf- und Abstiegsgeschichte von so manchem Imperium genauestens analysiert, so dass sie vom bevorstehenden und unvermeidlichen Untergang ihrer eigenen, der westlichen Kultur, felsenfest überzeugt waren.

Von ursprünglich utopischen Hoffungen hatten sie sich längst verabschiedet und waren zu illusionslosen Zynikern geworden. Ja, auch das amerikanische Imperium war dem Untergang geweiht. Zwar nicht sofort, aber die Zeit würde - wie immer - jede Hoffnung zuverlässig zerstören. Der Verlust religiöser Überzeugungen, Empfängnisverhütung, Hedonismus, die Emanzipation der Geschlechter, die Reichtümer, die angehäuft wurden, all das musste zwangsläufig zur Dekadenz der Eliten und schliesslich zum Zerfall jeder Ordnung führen. Am Horizont drohte AIDS, und das Ende der alten Weltordnung war längst eingeläutet. Dessen ungeachtet liess man es sich im Wochenendhaus gut gehen und laberte in Endlosschlaufen über erotische Eskapaden, Betrügereien und Sex, welchen Mann und Frau als olympische Disziplin betrieb.

Auf den Untergang des Imperiums folgen nun "Les invasions barbares". 2002 liegt Rémy (Rémy Girard), der lebenslustige Sexmaniac aus dem Film von 1986, sterbend in einem Spital in Montréal. Ex-Frau Louise (Dorothée Berryman) hat den gemeinsamen Sohn Sébastian (Stephane Rousseau) aus London herbeigeholt. Das fiel ihr nicht leicht, denn der Ex-Marxist Rémy mag den eigenen Sohn nicht leiden, seit dieser in der Bankenwelt märchenhaft reich geworden ist. Natürlich gehen die Streitereien gleich von neuem wieder los.

Trotzdem überwindet sich der Sohn und beginnt, dem Vater das Sterben zu erleichtern. Mit fetten Geldgeschenken schmiert er das Spitalpersonal, welches dem Todkranken darauf ein Einzelzimmer einrichtet. Auch trommelt er Rémys aus dem ersten Film bekannte Freundesrunde wieder zusammen und ist schliesslich darum besorgt, den Vater verbotenerweise mit Heroin aus der Unterwelt zu versorgen - die einzige Medizin, welche die Schmerzen etwas zu lindern vermag. Demonstriert Sébastien mit all den Zuwendungen anfangs vor allem seine finanzielle Potenz, weicht der aufgestaute Groll mit zunehmender Todesnähe des Vaters einer fast selbstlosen Zuneigung.

Zwar lässt Arcand die Freunde auch diesmal den Zeitgeist mit Hohn und Spott überhäufen. Trotzdem hat sich die tragische Komponente gegenüber dem Vorgängerfilm von 1986 deutlich verstärkt. In "Les invasions barbares" geht es um Leben und Tod. Mit Rémy stirbt nicht nur ein geiles kleines Professorenschwein; eine ganze Kultur liegt im Todeskampf. Alle -ismen haben versagt, und auch mit ihrer Veralberung ist kein Staat mehr zu machen. Die Ironie hat ausgedient, und was ihren Platz einnimmt, ist gewalttätig eindimensionales Denken. Mit den titelgebenden Barbaren meint Arcand einerseits Leute wie Sébastian, die kulturlosen Profiteure des kapitalistischen Way of Life. Andererseits weisen in den Film montierte Bilder der Anschläge auf die Zwillingstürme auf Eindringlinge von aussen. Und die lassen an ihrer Ablehnung jener Kultur, für die Rémy steht, nicht den geringsten Zweifel aufkommen.

Damit sie sich dann doch noch etwas annähern können, muss auf der einen Seite das ewige Kind Rémy im letzten Augenblick "erwachsen" werden. Sein Sohn hingegen verliert im Kontakt mit dem Vater seine professionelle Abgeklärtheit und gewinnt im Gegenzug etwas von der kindlichen Neugierde, welche Rémy ein Leben lang umher trieb. So kommt es, dass Arcand seinen Film nicht mit dem Selbstmord des Todgeweihten im Kreise seiner Freunde enden lässt. Er zeigt vielmehr, wie Sébastians absehbare bürgerliche Karriere mit Traumhochzeit, Traumjob und Porsche in dem Moment abbricht, als der Sohn sich fasziniert jener todessüchtigen Junkie-Frau zuwendet, die ihm zuvor den Stoff für den Vater beschafft hatte. Rémys Angst, aus der Welt zu scheiden, ohne jede Spur hinterlassen zu haben, war unbegründet...

19.02.2021

4.5

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Kommentare

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fego

vor 20 Jahren

Denis Arcant Film muss gesehen werden! Gruss aus Kanada.


JeJaTy

vor 20 Jahren

Schöne Bilder, packende Ereignisse


JeJaTy

vor 20 Jahren

Schöne Bilder, packende Ereignisse


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