Kritik16. Februar 2024 Maria Engler
Berlinale 2024: «Small Things Like These»: Die richtige Seite
Im Eröffnungsfilm der Berlinale 2024 wird das Private politisch. Oscar-Kandidat Cillian Murphy verkörpert in diesem irischen Heimspiel einen Mann, der zwischen familiärem Glück und der eigenen Moral schwankt.
«Small Things Like These»: Die richtige Seite
Tim Mielants | Irland, Belgien | 96 Min.
Bill Furlong ist Kohlenhändler und Vater von fünf Töchtern. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1985 beobachtet er bei einer seiner Lieferungen zu einem Kloster, wie eine junge Frau kreischend ins Innere gezerrt wird. Die Szene lässt ihn nicht mehr los und stösst ihn in den Abgrund seiner eigenen Vergangenheit. Schon bald stellt sich heraus: Das ganze Dorf weiss über das Magdalenenheim Bescheid, in dem junge Frauen festgehalten und zu Zwangsarbeiten genötigt werden. Bill gerät in ein moralisches Dilemma.
«Small Things Like These» ist nicht das erste Projekt, an dem der Regisseur Tim Mielants und sein Hauptdarsteller Cillian Murphy zusammenarbeiten. Beide wirkten bereits in der dritten Staffel der Erfolgsserie «Peaky Blinders» mit. Ohnehin ist Mielants vor allem in der Welt der Serien zu Hause, zunächst in seiner belgischen Heimat, später vermehrt in Grossbritannien. Mit «Small Things Like These» wagt er sich nun an eine Verfilmung des gleichnamigen Romans der irischen Autorin Claire Keegan, der 2022 den Orwell Prize for Political Fiction gewann.
Protagonist Bill entdeckt in seiner Nachbarschaft ein Magdalenenheim, das ihm fortan keine Ruhe mehr lässt. Hintergrund der Erzählung sind die Zustände in diesen Heimen, die ab den 1820er-Jahren bis 1996 von katholischen Institutionen in Irland betrieben wurden und sich nach aussen als Zufluchtsorte für junge Frauen ausgaben, die unverheiratet schwanger und von ihren Familien verstossen wurden. In Wirklichkeit waren die Frauen aber oftmals unfreiwillig in den Heimen, sie wurden von den Nonnen und anderen Aufpasser:innen missbraucht, als kostenlose Arbeitskräfte ausgenutzt und ihre Babys wurden ohne Zustimmung zur Adoption freigegeben.
Von all diesen Schrecken ist in «Small Things Like These» allerdings wenig zu sehen – die Misshandlungen in den Heimen bleibt ein Mysterium, von dem nur die verängstigten und nach Hilfe flehenden jungen Frauen bleiben, auf die Bill trifft. Regisseur Tim Mielants nimmt stattdessen seinen Protagonisten fest in den Blick – und das sowohl auf der Handlungsebene als auch ästhetisch. Immer wieder arbeitet er mit Nahaufnahmen, die Bills Gesicht übergross in den Mittelpunkt rücken. Ein Gesicht, hinter dessen mühsam aufrecht gehaltener Fassade es sichtbar bröckelt, als er sich mehr und mehr in den eigenen Erinnerungen verliert und mit dem Grauen der Heime konfrontiert sieht. Dermassen im Fokus zu stehen und dabei trotzdem über die gesamte Laufzeit zu fesseln, ist zweifellos keine leichte Aufgabe – doch Cillian Murphy erfüllt diesen Auftrag mit Bravour.
Auf ruhige und doch hypnotische Weise erzählt «Small Things Like These» von Machtlosigkeit im Angesicht einer übermächtigen Ungerechtigkeit und dem Ringen mit der eigenen Moral. Diese fokussierte Charakterstudie mit politischem Hintergrund verliert dabei aber etwas das eigentliche Thema aus dem Blick – die Opfer der Gewalttaten kommen nicht zu Wort. Auch porträtiert der Film seine Hauptfigur als jemanden, der mit der Unterdrückung und Misshandlung von Frauen in seiner eigenen Vergangenheit in Berührung gekommen und nun um seine Töchter besorgt ist. Dabei wäre ein Protagonist, der sich ganz ohne eigene Berührungspunkte den Problemen in seiner Umgebung bewusst wird und zur Gegenwehr entschliesst, Träger einer deutlicheren politischen Botschaft.
3.5 von 5 ★
Eine Zusammenstellung aller Texte der 74. Berlinale findest du hier.
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