Kritik30. Mai 2023

Cannes 2023: «Laissez-moi»: Die Einsamkeit der Berge

Cannes 2023: «Laissez-moi»: Die Einsamkeit der Berge
© GoldenEggProduction

Der Schweizer Regisseur Maxime Rappaz präsentiert seinen ersten Spielfilm, «Laissez-moi», in der Sektion Acid des Filmfestivals von Cannes. Jeanne Balibar glänzt in der Hauptrolle einer einsamen Frau mit einem streng geregelten Tagesablauf.

«Laissez-moi»: Die Einsamkeit der Berge

Maxime Rappaz | 93 min.

Ein Text von Marine Guillain

Einmal in der Woche zieht Claudine (Jeanne Balibar) ihr weisses Kleid und ihre braunen Stiefeletten an, trägt ihren Lippenstift auf und fährt mit dem Zug und später mit der Seilbahn zu einem Berghotel am Fusse eines riesigen Staudamms. Dort, auf 2500 Metern Höhe, bittet sie den Empfangsmitarbeiter, ihr gegen eine kleine Gebühr ein paar Informationen über die anwesenden Gäste zu geben. Die Kriterien sind einfach: einsame Männer, die nur kurze Zeit bleiben.

Jeden Dienstag läuft es nach demselben Muster ab: Sie geht auf die Männer zu, fragt sie nach der Stadt, in der sie leben, schläft mit ihnen und geht wieder. Sie schreibt die Geschichten, die ihr die Männer über Florenz oder Hamburg erzählt haben, auf eine Postkarte und schickt diese Karten an ihren behinderten Sohn (gespielt von dem Lausanner Schauspieler Pierre-Antoine Dubey), wobei sie ihn glauben lässt, dass sie von seinem Vater stammen. Den Rest ihrer Zeit verbringt Claudine mit ihrem Sohn, um den sie sich aufopferungsvoll kümmert. Aber: Was, wenn ein anderes Leben möglich wäre?

© GoldenEggProduction

Der von Maxime Rappaz inszenierte Film «Laissez-moi» ist die einzige 100%ige Schweizer Produktion, die dieses Jahr in Cannes ausgewählt wurde. Der Regisseur, der in Genf geboren wurde, aber aus dem Wallis stammt, wählte zuerst seinen Handlungsort aus, bevor er sein Drehbuch schrieb. Er stellte sich das Doppelleben dieser Frau vor, die ihren Alltag im Flachland verbringt und in die Berge flüchtet. Der Staudamm Grande-Dixence im Val d'Hérens wird dabei zu einer eigenständigen Figur. Die sich wiederholenden Einstellungen, die sich meist auf das Gesicht von Jeanne Balibar konzentrieren – das von einer liebevollen Kamera hervorgehoben wird – und nur selten in Totalen eingefangen werden, vermitteln eher ein Gefühl des Erstickens als der Freiheit. Die Walliser Landschaften sind keineswegs wie eine Postkarte gefilmt, die Claudine ihrem Sohn schicken würde, ganz im Gegenteil, sie vermitteln den Eindruck einer eigenen Welt, ein wenig geheimnisvoll und zeitlos.

Im Laufe des Films vollzieht Claudine, eine mutige Mutter, die zu ihren Wünschen und Entscheidungen steht, einen persönlichen Werdegang, den Maxime Rappaz mit Feingefühl und Sachlichkeit filmt. Melancholie umhüllt das Publikum, während die 50-Jährige langsam gewisse Opfer und die Einsamkeit, in der sie sich eingerichtet hat, in Frage stellt.

3 von 5 ★

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