Artikel15. November 2024 Cineman Redaktion
Filmwissen: Politik, Widerstand und Solidarität: Die Stimme des iranischen Kinos
Diese Woche erscheint Mohammad Rasoulofs Thriller «The Seed of the Sacred Fig» in den Deutschschweizer Kinos – auf Festivals weltweit umjubelt, im Rennen um die Oscars, aber in seiner Heimat vom Staat abgelehnt. Für uns ein willkommener Anlass, uns mit wichtigen Personen, Zensur und staatlichem Druck sowie bedeutenden Werken des iranischen Kinos zu beschäftigen – wir geben dir einen Überblick!
von Marine Guillain; übersetzt aus dem Französischen
Kino und Politik sind im Iran, einem Land, das jährlich etwa 120 Filme produziert, nahezu untrennbar miteinander verbunden. Als 1904 das erste Kino eröffnet wurde, war diese Freizeitbeschäftigung, wie so ziemlich jede andere auch, den Männern vorbehalten. Erst 1928 wurden Kinos für Frauen und später auch für ein gemischtes Publikum eingerichtet. Jahre später markierte die iranische Revolution von 1979 einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Filmkunst. Sie brachte neue Zwänge für Filmschaffende mit sich, die das Kino in den 1980er-Jahren beeinflussten. Ab den 1990er-Jahren entstand eine internationale Anerkennung, die sich nur noch steigern sollte.
Die Lieblinge der Filmfestivals
Die erste internationale Anerkennung für das iranische Kino kam 1997: Abbas Kiarostamis «Der Geschmack der Kirsche» erhält die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes. Seitdem werden iranische Filme regelmässig auf den grossen internationalen Filmfestivals ausgezeichnet. Dies war der Fall für «Der Kreis» von Jafar Panahi (Goldener Löwe in Venedig 2000), für «Schwarze Tafeln» und «Fünf Uhr am Nachmittag» der jungen Samira Makhmalbaf, die 2000 und 2003 in Cannes zweimal den Preis der Jury gewannen, und für «Nader und Simin - eine Trennung» von Asghar Farhadi (Goldener Bär in Berlin 2011).
In jüngerer Zeit gewann Mohammad Rasoulofs «Der Teufel existiert nicht» 2020 ebenfalls den Goldenen Bären und mit seinem Film «The Seed of the Sacred Fig» den Preis der Jury in Cannes, während Ali Ahmadzadehs «Critical Zone» 2023 beim Filmfestival von Locarno den Goldenen Leoparden gewann.
Zar Amir Ebrahimi und Golshifteh Farahani
Die beiden im französischen Exil lebenden Schauspielerinnen, die seit langem befreundet sind, gelten als Botschafterinnen des iranischen Frauenkampfes. Golshifteh Farahani, die schon als Teenager ein Star in ihrem Land war, ist die erste Iranerin, die in einem Hollywood-Film mitspielte: «Der Mann, der niemals lebte» von Ridley Scott (2008). Nach der Veröffentlichung des Films, in dem sie unverschleiert spielte, musste sie ins Exil gehen. Seitdem hat sie zwischen grossen Hollywood-Produktionen («Fluch der Karibik»-Franchise, «Tyler Rake: Extraction») und europäischen Filmen («Paterson», «Une comédie romantique») gewechselt. Bald wird sie in «Reading Lolita in Tehran» mit Zar Amir Ebrahimi zu sehen sein.
Die Schauspielerin, die in ihrem Heimatland ein Fernsehstar ist, musste 2008 fliehen, kurz bevor sie zu einem zehnjährigen Kunstverbot und 90 Peitschenhieben verurteilt wurde, nachdem ein intimes Video von ihr im Internet verbreitet worden war. Doch seit ihrem Preis als beste Schauspielerin bei den Filmfestspielen von Cannes 2022 für ihre Rolle als Journalistin im Kampf gegen religiöse Unterdrückung und Sexismus in «Holy Spider» von Ali Abbasi ist die internationale Bekanntheit von Zar Amir Ebrahimi sprunghaft angestiegen.
«Ich habe einen künstlerischen Zugang zum Kino und ich habe nicht all das getan, um jeden Tag über Politik zu sprechen», sagte uns Zar Amir Ebrahimi auf der Berlinale 2023. «Ich bin müde, aber gleichzeitig sage ich mir, dass ich die Zeit nutzen muss, in der meine Stimme gehört wird. Berühmte Menschen haben eine grössere Chance als andere, gesehen und gehört zu werden, also versuche ich, diese Chance zu nutzen.»
Gegen die Zensur
Die Zensur existiert im Iran ungefähr so lange wie das Kino. Der Beginn der offiziellen Zensur geht auf das Jahr 1930 zurück: Eine Verordnung aus Teheran schreibt vor, dass ein Beamter der Stadt die Filme vor der Ausstrahlung sichten muss. Nach der iranischen Revolution wurden alle Verleihgenehmigungen für in- und ausländische Filme aufgehoben und einer erneuten Prüfung unterzogen: Nur 10% der Filme bestanden den Test. Seit einigen Jahren spielen die iranischen Behörden Katz und Maus mit einigen einheimischen Filmschaffenden, die sich nicht auf Linie bringen lassen. Ganz oben auf der Liste stehen Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof.
Jafar Panahi wurde 2010 von der iranischen Justiz wegen Propaganda gegen das Regime zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und darf sein Land nicht verlassen. Er wurde auf Bewährung freigelassen und am 11. Juli 2022 erneut inhaftiert. Nach einem Hunger- und Durststreik wird er am 3. Februar 2023 freigelassen. Jafar Panahi dreht seine Doku-Dramen nun heimlich, oft mit einem Telefon aus dem Inneren seines Autos – ein Verfahren, das den gesamten Film «Taxi Teheran» ausmacht, der 2015 in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.
Mohammad Rasoulof wurde 2010 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und 2019 erneut, da er nach der Veröffentlichung seines Films «A Man of Integrity» wegen Aktivitäten gegen die nationale Sicherheit und Propaganda gegen das Regime angeklagt wurde. In «There is no Evil» (Goldener Bär 2020), der heimlich im Iran gedreht wurde, prangert der Filmemacher in vier erschütternden Erzählungen die Todesstrafe an.
Erst vor kurzem wurde er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, als er mitten in den heimlichen Dreharbeiten zu «The Seed of the Sacred Fig» steckte. Im Mai 2023 musste er auf einer Reise, die er als «anstrengend und extrem gefährlich» beschrieb, zu Fuss durch die Berge aus seinem Land fliehen, um den Behörden zu entkommen. Nachdem er die Grenze überquert hatte, versteckte er sich an verschiedenen geheimen Orten, bis er schliesslich nach Deutschland gelangte, wo er seinen Film aus der Ferne fertigstellte.
Ali Ahmadzadeh, der 2023 in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, drehte auch «Critical Zone» im Untergrund, mit einem nicht professionellen Verleih, und überlistete so die Behörden. Dem Filmemacher ist es verboten, den Iran zu verlassen und in seinem Land Filme zu drehen.
Favoriten der Redaktion
«Offside»
Jafar Panahi (2006)
Ein Mädchen, das wie viele andere Iranerinnen Fussballfan ist, verkleidet sich als Junge, um in das für sie verbotene Stadion zu gelangen. Sie wird entdeckt und versucht alles, um das Spiel sehen zu können. Ein packendes Drama mit einer Prise Humor.
«Raving Iran»
Susanne Regina Meure (2016)
Es handelt sich nicht um einen vollständig iranischen Film, da er von einer Schweizer Filmemacherin gedreht wurde. Susanne Regina Meure («Girl Gang») folgt darin zwei iranischen DJs, Anoosh und Arash, die versuchen, Raves zu organisieren und elektronische Musik zu machen, ohne von der Regierung erwischt zu werden. Einzigartig.
«Malaria»
Parviz Shahbazi (2016)
Hanna reisst mit ihrem Freund Murry von zu Hause aus und macht sich auf den Weg in die Hauptstadt. Zwischen Liebe, Party, Musik und neuen Bekanntschaften ist «Malaria» eine fiebrige Ode an die Lebendigkeit der iranischen Jugend, die in den Strassen von Teheran gefilmt wurde. Glühend heiss.
«Khook»
Mani Haghighi (2018)
Vor «Subtraction» drehte Mani Haghighi «Khook»: Ein psychopathischer Killer treibt sein Unwesen am Set eines Films und ermordet einen Menschen nach dem anderen, lässt aber den Regisseur in Ruhe. Eifersüchtig fühlt sich dieser übergangen. Absurd und urkomisch.
«Die Sirene»
Sepideh Farsi (2023)
Auch Animationsfilme sind im Iran sehr beliebt, wie zum Beispiel «Persepolis» (2007), eine Adaption der preisgekrönten Graphic Novel von Marjane Satrapi, oder «Teheran Taboo» (2017), ein Porträt einer schizophrenen Gesellschaft, in der Korruption, Prostitution und Drogen mit religiösen Verboten koexistieren. Ein jüngerer Film dieses Genres ist «Die Sirene», der auf der Berlinale und in Annecy gezeigt wurde und Anfang 2024 in die Kinos gekommen ist. Die regimekritische Filmemacherin Sepideh Farsi erzählt darin eine Episode aus dem Iran-Irak-Krieg aus der Sicht des 14-jährigen Omid, der versucht, die Bewohner seiner Stadt vor den Belagerern zu retten. Von erschütternder Schönheit.
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