Artikel29. November 2023 Cineman Redaktion
Filmwissen: «Saw» und der Torture Porn: Ab in die Niederungen des Horrors – und zurück?
Mit «Saw X» gibt es jetzt den zehnten Teil der Reihe im Kino zu sehen, die vor 20 Jahren einen Horror-Trend begründete, der polarisierte. Der sogenannte Torture Porn setzt ausschweifende Gewaltdarstellungen ins Zentrum – doch ist das Genre heute noch aktuell? Wir zücken die Lupe und schauen ganz genau hin, auch wenn's weh tut!
von Peter Osteried
Horror lebte immer schon von der Grenzerfahrung, vom Sprengen des gesellschaftlichen und moralischen Korsetts, vom Vordringen dorthin, wo es weh tut. Im Grunde liesse sich sagen, dass der Torture-Porn-Trend, der 2004 mit dem ersten «Saw» startete, nur der Höhepunkt dessen war. Eine Potenzierung der Grand-Guignol-Ursprünge, die auf das Théâtre du Grand Guignol zurückgehen, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts Stücke aufgeführt wurden, die vor Blut, Sex und schwarzem Humor nur so trieften.
Das Genre lotete stets aus, was das Publikum sehen wollte und gerade noch erlaubt war. Verpönt war es praktisch immer, insbesondere, als sich zur Mitte der 70er- und dann in den 80er-Jahre die Fluttore öffneten und die Effekte nicht nur realistischer, sondern auch blutiger wurden. Entsprechend müssen «Saw» und seine Beiwerke als die logische Konsequenz betrachtet werden. In ihnen entführt der Spielleiter Jigsaw Menschen, die seiner Meinung nach das Leben nicht schätzen. Indem er sie zwingt, körperlichen Schmerz in Kauf zu nehmen, um zu überleben, lehrt er sie auch, zu schätzen, was sie haben. Der Film traf den Zeitgeist, im Vergleich zu den nachfolgenden Teilen war das Original aber noch mehr Psychothriller als filmische Schlachtplatte. In schneller Abfolge kam jedes Jahr ein neuer Film, bis 2010 mit dem siebten Teil vorläufig Schluss war.
Die Gründe des Erfolgs
Der Erfolg der Reihe ist vor den Ereignissen der damaligen Zeit zu sehen, den Jahren nach dem 11.9., den nachfolgenden Kriegen und den Gräueltaten von Abu Ghraib. Der amerikanische Ex-Vizepräsident Dick Cheney bezeichnete Folter als „erweiterte Verhörmethoden“, die Realität zeigte ihr hässliches Antlitz und die Entertainment-Industrie reagierte darauf.
Es war längst nicht nur das Horror-Genre, das mit immer krasseren Folterszenen der Realität den Spiegel vorhielt – selbst Fernsehserien griffen das Thema auf. Keine Staffel von «24» kam ohne Szenen aus, in denen Jack Bauer foltert oder gefoltert wird. Bei «Battlestar Galactica» wurden das Thema unter dem Eindruck dessen verarbeitet, was die Bilder von Abu Ghraib für die amerikanische Öffentlichkeit bedeuteten. Der Mainstream griff das Thema auf, massenweise lief das Publikum in die «Saw»-Filme – um sich zu versichern, dass die Fiktion doch noch brutaler und grausamer sein kann, als die Realität?
Das mag eine Erklärung für den Erfolg sein, eine andere geht dann doch aufs Grand Guignol zurück. Auf den puren Voyeurismus, auch auf latenten Sadismus, auf den Thrill, der mit den elaborierten Fallen und der Frage einhergeht, ob die DelinquentInnen ihnen entkommen können. Das Verquere dabei: Der einen oder anderen Figur wäre ein Überstehen des Schreckens wünschenswert gewesen – und doch lässt sich nicht verbergen, dass auch eine diebische Freude mitspielt, wenn die Missetäter ihre Strafe erhalten. Oder anders gesagt: Wenn es schon eine solch elaborierte Falle gibt, wie Jigsaw sie entwickelt hat, dann will das Publikum auch sehen, wie sie ausgelöst wird.
Selbst ein Film wie «Die Passion Christi» setzt auf den Schockeffekt und zeigt das Leiden und Sterben von Jesus Christus auf eine drastische Art und Weise – anders als bei den meisten Horrorfilmen, wird hier jedoch Sympathie für die Hauptfigur geweckt.
Die Nachahmer
Der Erfolg von «Saw» rief zahlreiche Nachahmer auf den Plan. Am erfolgreichsten war dabei Eli Roth mit «Hostel», in dem er davon erzählt, wie amerikanische RucksacktouristInnen entführt und verschachert werden, damit reiche Perverse sie langsam zu Tode foltern können. Der Film lebt von seinen drastischen Effekten – einen Hauch von gesellschaftlicher Kritik gibt es aber auch, der in gewisser Weise sogar subversiv ist. Denn er stellt das Publikum fast gleich mit den reichen Übeltätern. Das Kinoticket wurde gelöst, um Folter und Leid zu sehen, so wie die Folterer bezahlt haben, um ihre Opfer quälen zu können. Ob das den meisten Zuschauern und Zuschauerinnen bewusst war?
Es gab ein Sequel, während ein dritter Teil dann noch für den Heimkinomarkt produziert wurde. Dem Erfolg von «Saw» und «Hostel» folgte ein knappes Jahrzehnt der Folter. Beim Torture Porn ist das Zufügen von Leid keine Randerscheinung der Geschichte mehr, sie ist das Zentrum. Der in der Öffentlichkeit geführte Folterdiskurs der Realität wurde widergespiegelt, Filme wie «Captivity», die «Wolf Creek»-Reihe, «Martyrs», «The Loved Ones», «The Devil’s Rejects» und die «Human Centipede»-Filme, um nur ein paar zu nennen, machten das Gehörte in der Sicherheit des eigenen Wohnzimmers oder auch im Kinosaal erlebbar.
Mit dem Ende des Jahrzehnts endete auch der Torture-Porn-Trend – zumindest in Hinblick darauf, dass er auf ein grosses Publikum traf. Die schnelle Abfolge brutaler Sequenzen verlor ihren Reiz, ihren Neuheitswert, als krasses Gegengewicht begann eine neue Horrorströmung, die des Geister- und Gruselfilms, die mit «Insidious», «Conjuring» und «Paranormal Activity» den Schrecken wieder subtiler werden liess.
Wiederbelebung?
2017 wurde mit «Jigsaw» versucht, die Saw-Reihe wiederzubeleben – ohne grossen Erfolg. Ein Spin-off folgte, und nun kehrt «Saw X» fast bis an den Anfang zurück. Aber ein neuerliches Auslösen dieses Trends ist aber nicht zu erwarten. Der Film ist wenig mehr als ein Aufguss dessen, was man schon gesehen hat. Der Schockfaktor immer krasserer Fallen und Foltermethoden hat einen Endpunkt erreicht. Gänzlich schwinden wird diese Spielart des Genres natürlich nie, die Höhen der 2000er-Jahre wird sie so schnell aber wohl nicht mehr erklimmen.
Sie hebt ihr Haupt aber auch in anderen Genres wieder – wie im letzten Jahr mit «Terrifier 2». Der ist zwar de facto ein Slasher-Film, zelebriert aber die Morde seines Schurken Art the Clown mit boshaftem Sadismus – und das über mehrere Minuten hinweg, wofür er von einem Teil des Publikums gefeiert wird. Dagegen wirken selbst die übelsten Auswüchse des Torture Porn harmlos, aber ihm ist es wohl auch zu verdanken, dass seine niedersten Instinkte sich wie Metastasen genreübergreifend ausgewachsen haben. Nein, einen «Saw X» hätte es da nicht mehr gebraucht. Nicht, weil der Film Grenzen überschreitet und wehtun würde, sondern weil er nichts zu sagen hat, das nicht schon gesagt wurde. Die Renaissance der Folter im Kino ist abgesagt – zumindest fürs Erste.
«Saw X» ist ab dem 30. November in den Kinos zu sehen.
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