Artikel4. November 2021 Cineman Redaktion
Filmtagebuch: Noomi Rapace – Die Lust an herausfordernden Rollen
Seit dem weltweiten Erfolg der schwedischen Millennium-Trilogie nach der gleichnamigen Romanreihe des Schriftstellers Stieg Larsson ist die 1979 geborene Noomi Rapace aus dem internationalen Kino nicht mehr wegzudenken. Ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken, lotet die Schauspielerin mit den markanten Wangenknochen die emotionalen Untiefen der von ihr verkörperten Rollen aus und schafft es immer wieder, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Den Start ihrer neuen Leinwandarbeit «Lamb» möchten wir nutzen, um ihre bisherige Karriere schlaglichtartig zu beleuchten.
von Christopher Diekhaus
1. «Millennium (Trilogie)»
Darum geht’s: In «Verblendung», dem ersten Teil der schwedischen Romanverfilmungen nach Stieg Larsson, soll der vor einer Gefängnisstrafe stehende Journalist Mikael Blomkvist (Michael Nyqvist) für einen Grossindustriellen das viele Jahre zurückliegende Verschwinden seiner Nichte untersuchen. Mit Hilfe der Hackerin Lisbeth Salander (Noomi Rapace) kommt der Reporter unglaublichen familiären Abgründen auf die Spur. «Verdammnis» dreht sich um Nachforschungen über einen Mädchenhändlerring, die in hohe Kreise führen. Blomkvist muss dabei Lisbeth unter die Arme greifen, die ins Visier der Polizei geraten ist. In «Vergebung», dem dritten Teil der Trilogie, wird es für die Hackerin einmal mehr brenzlig. Schwer verletzt liegt sie im Krankenhaus und steht unter Mordverdacht, was Mikael zu widerlegen versucht. Um eine grosse Verschwörung aufzudecken, muss der Journalist alles riskieren.
Schauspielerischer Parforceritt: Schwarz gefärbte Haare, gepierct, überall tätowiert und ein blasser Teint – mit diesem Punk-Aussehen betrat Noomi Rapace 2009 die internationale Bühne und liess in ihrer Lisbeth-Salander-Darstellung keinen Zweifel daran, dass sie in ihrem Schaffen besonders die dunklen Seiten des Menschseins ergründen möchte. Als in sich gekehrte Computerspezialistin mit traumatischer Kindheit liefert sie eine furiose, zwischen handfesten Gefühlsausbrüchen und kühler Berechnung pendelnde Performance ab. Emotionale Extremlagen – so viel liess sich nach der Millennium-Trilogie sagen – sind in ihren Händen bestens aufgehoben.
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Verfügbar auf Netflix: Verblendung
2. «Babycall»»
Darum geht’s: An einem neuen Ort und unter anderem Namen will Anna (Noomi Rapace) mit ihrem achtjährigen Sohn Anders (Vetle Qvenild Werring), der von seinem Vater fast getötet wurde, einen Neustart wagen. Regelmässig schauen zwei Mitarbeiter des Jugendamtes (Maria Bock und Stig R. Amdam) in der frischbezogenen Wohnung vorbei und erinnern die verängstigte junge Frau daran, Anders Freiheiten zu geben. Alleine schlafen lässt sie ihn erst nach dem Kauf eines Babyfons, auf dem Anna zu ihrem Entsetzen eines Abends die Schreie eines offenbar misshandelten Kindes hört. Wie es scheint, hat der Albtraum der häuslichen Gewalt, dem sie gerade erst entflohen ist, kein Ende.
Starkes Porträt einer Getriebenen: Zerzauste, leicht fettige Haare und zerknitterte Klamotten – schon optisch macht Anna keinen guten Eindruck. Noomi Rapace spielt die von schrecklichen Erfahrungen gezeichnete Mutter als scheuen, überall Gefahren vermutenden Menschen, der, wenn nötig, aber auch Entschlossenheit an den Tag legen kann. Um jeden Preis will sie Schaden von ihrem Sohn abwenden, neigt dabei allerdings zu übervorsorglichen Handlungen. Dass der die Wahrnehmung der Protagonistin als brüchig und unzuverlässig zeichnende Psychothriller funktioniert, liegt vor allem an der emotionalen Bandbreite seiner Hauptdarstellerin, die Annas Suche nach Halt, ihre zaghafte Annäherung an den zuvorkommenden Elektronikfachmann Helge (Kristoffer Joner) und ihre Angst vor der schmerzhaften Vergangenheit nuanciert zum Ausdruck bringt.
3. «The Drop»
Darum geht’s: Stoisch geht der Barmann Bob (Tom Hardy) seiner Arbeit in einem Lokal nach, das einst seinem Cousin Marv (James Gandolfini) gehörte, nun aber in Händen der tschetschenischen Mafia ist. Eines Nachts entdeckt er auf dem Nachhauseweg in einer Mülltonne einen Welpen und macht die Bekanntschaft von Nadia (Noomi Rapace), die ihm hilfreiche Tipps für den Umgang mit Vierbeinern geben kann. Als seine Bar überfallen wird, gerät Bob, der inzwischen den jungen Hund fest bei sich aufgenommen hat, in eine mörderische Intrige.
Überzeugende Nebenrolle: «The Drop» bietet vor allem den männlichen Stars Tom Hardy und James Gandolfini, die beide ein komplexes, in die Tiefe gehendes Charakterporträt entwerfen, Gelegenheit zum Glänzen. Zu den Stärken des Krimidramas zählt auch die melancholische Grundstimmung, die in jeder Szene aufblitzt. Für spannende Akzente am Rande sorgt allerdings ebenso Noomi Rapace, deren Figur nach und nach ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem wortkargen Bob aufbaut. Stark gespielt ist zum Beispiel der Moment, in dem Nadia plötzlich erkennt, dass ihr möglicher neuer Freund eine andere, dunkle Seite hat.
4.«What Happened to Monday»
Darum geht’s: In einer nicht allzu fernen Zukunft wurde aufgrund von Überbevölkerung und Versorgungsengpässen eine rigoros überwachte Ein-Kind-Politik eingeführt. Als Siebenlinge zur Welt kommen, deren Mutter unter der Geburt verstirbt, nimmt ihr Grossvater Terrence Settman (Willem Dafoe) die identisch aussehenden Mädchen in seine Obhut. Jedem Kind ordnet er einen Wochentag als Namen zu und regelt damit, wer wann das Haus verlassen darf. Immerhin muss in der Öffentlichkeit der Eindruck einer einzigen Person aufrechterhalten werden. Jahre später sind die Schwestern erwachsen geworden und treten in der Aussenwelt allesamt als Bankangestellte Karen Settman auf. Das Verschwinden Mondays sorgt bei den anderen schliesslich für grosse Aufregung.
Rapace mal sieben: Der von Tommy Wirkola inszenierte Science-Fiction-Streifen hat eine spannende und originelle Prämisse zu bieten, lenkt diese in der zweiten Hälfte jedoch leider zunehmend in eine eher konventionelle Actionrichtung. Zu einem kleinen Ereignis wird «What Happened to Monday? » aber dank Rapaces facettenreicher Darbietung. Wie die Schwedin gleich sieben Rollen stemmt, mithilfe kleiner Gesten und Details Abgrenzungen schafft und ganz individuelle Persönlichkeiten zum Leben erweckt, zeugt von grossem Talent und gutem Gespür für menschliche Ausdrucksformen. Bislang – Stand Herbst 2021 – dürfte dieser Film ihre grösste Herausforderung gewesen sein, auch wenn sie in ihrer Karriere schon so manchen strapaziösen Part übernommen hat.
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5. «Lamb»
Darum geht’s: Irgendwo in der isländischen Abgeschiedenheit bewirtschaften María (Noomi Rapace) und ihr Mann Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) einen Hof für Schafe und gehen ihrem eher kargen Alltag mit routinierter Unaufgeregtheit nach. Das Leben des Paares, über dem ein früherer Schicksalsschlag schwebt, ändert sich allerdings von Grund auf, als sie unverhofft ein Lamm zur Welt bringen, das erstaunlicherweise halb Tier und halb Mensch ist. In stiller Eintracht nehmen sie das merkwürdige Geschöpf in ihrem Wohnhaus auf und ziehen es wie ein normales Kind gross. Das Auftauchen von Ingvars Bruder Pétur (Björn Hlynur Haraldsson) bringt das langsam heranwachsende Familienglück jedoch in Gefahr.
Zurückgenommen, aber unter die Haut gehend: Fast provokant gemächlich entfaltet sich die Geschichte in Valdimar Jóhannssons Regiedebüt. Anzeichen nahenden Unheils transportieren schon die wuchtigen Bilder der rauen Naturkulisse und die sparsam eingesetzte Musik. Das Herz des Horrordramas bildet die Beziehung zwischen María und Ingvar, die anfangs abgeklärt und nicht sehr intim wirkt. Nach der Aufnahme des Mensch-Lamm-Hybriden namens Ada zieht allerdings ein langsamer stärker werdendes Glücksgefühl in ihren Umgang miteinander ein. Erneut schafft es Noomi Rapace, ohne effekthascherische Mittel bemühen zu müssen, in Gesten und Blicken das Innenleben ihrer Figur zu vermitteln und diesem eigentlich so spröden Film eine ungeahnte emotionale Tiefe zu geben. Gespannt sein darf man schon jetzt, welche aufwühlenden Charakterprofile die unerschrockene Schwedin in Zukunft auf die Kinoleinwand malen wird.
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Seit dem 28. Oktober 2021 im Kino
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