Review24. Februar 2023 Cineman Redaktion
Berlinale 2023: «Seneca»: John Malkovich gibt einen launischen, wunderlichen Seneca
Er zählt zu den vielseitigsten Regisseuren seiner Generation. Auf der 73. Berlinale zeigt Robert Schwentkes «Seneca - On the Creation of Earthquakes» ausserhalb des Wettbewerbs eine philosophische Lektion aus einer anderen Zeit.
«Seneca»: John Malkovich gibt einen launischen, wunderlichen Seneca
Robert Schwentke | 110 Min.
Ein Text von Théo Metais
Rom, im Jahr 65 v. Chr.: Seneca (John Malkovich) hat das Exil überlebt und kümmert sich nun um die Erziehung von Nero (Tom Xander). Berater, Lebenstrainer; Seneca und Nero stehen sich sehr nahe, aber diese Nähe ist nicht immer nach dem Geschmack des jungen Kaisers. Und als er seinen Hauslehrer verdächtigt, hinter einer Verschwörung zu stecken, befiehlt Nero Seneca, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Ein Drehbuch, das für John Malkovich geschrieben wurde. Ohne seine Zustimmung, gesteht Robert Schwentke, hätte es den Film nie gegeben. Der deutsche Regisseur von «Tattoo» (2002), dem Blockbuster «R.E.D» (2010) und dem satirischen «Der Hauptmann» (2017) nimmt uns nun auf eine unerwartete Reise mit, die aus Sand, Blut, Philosophie, antiken Theatern (gedreht wurde in den Bergen Marokkos) und Anachronismen besteht. Und bald weiss das Publikum nicht mehr, auf welchem Fuss es philosophieren soll.
Zu Beginn lehrt Seneca Nero (ein ungestümer Tom Xander) die Kunst der Rhetorik, allerdings nicht ohne Drama. Von da an wird das Mundwerk des Stoikers nicht mehr stillstehen. John Malkovich verteilt seine Lehren über die Natur, das Leben und die Tugend an «ein Kind mit zu viel Macht», wie er später sagen wird. Ein Ringkampffan, der beim Anblick von Blut erwacht und dafür verantwortlich ist, dass seine Mutter Agrippina mit Steinen erschlagen wird. Sein liebliches Engelsgesicht hätte uns fast getäuscht, doch der junge Mann ist alles andere als ein Heiliger und verkörpert das Abstossendste, was die römische Geschichte zu bieten hat.
Das ist der seltsame Schüler, aus dem Seneca einen Kaiser formen soll und der auf den Namen «Mr. President» hört. Robert Schwentke wählt diesen Begriff, um seiner Geschichte eine zeitgenössische Bedeutung zu verleihen. Ein von Pier Paolo Pasolini und seinem «König Ödipus» (1967) inspirierter Film, der den Weg für das ebnet, was der Regisseur «einen aggressiven Anachronismus» nennt. In der Tat nehmen goldene Brustpanzer die Form von elektrischen Gitarren an und Nero scheint Bonos blaue Brille geklaut zu haben. Die Requisiten ermöglichen es «Seneca» jedoch, eine subtilere Ironie einzuführen.
Bis zu seinem von Nero befohlenen Selbstmord - eine diabolisch explizite Szene, die im Publikum für Unbehagen sorgte - hört Seneca nicht auf, moralische Tugend und die Befreiung von materiellen Gütern zu predigen. Diese Philosophie spiegelt sich auch in der Wahl der Kostüme wider: Senecas beige Wäsche steht im Kontrast zur weichgespülten Extravaganz seiner Gastgeber. Dabei gehört er selbst zu den wohlhabendsten Persönlichkeiten Roms und ist durch den Dienst an einem berüchtigten Tyrannen zu Reichtum gelangt. Als der Tod näher rückt, ist der Stoiker übrigens nicht mehr so selbstlos und schwelgt in seiner eigenen Legende. Der Philosoph ist geschlagen: Robert Schwentke präsentiert eine grosse, experimentelle Farce über die Eliten unserer Zeit, die vom Kino der 60er und 70er Jahre inspiriert ist.
4 von 5 ★
Eine Zusammenstellung aller Texte der 73. Berlinale findest du hier.
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