Sommer, Sonne, Meer und toller Fussball – das alles kommt einem bei Spanien vielleicht als Erstes in den Sinn. Dabei hat das Land noch so viel mehr zu bieten. Unter anderem auch ein reiche Kinokultur, die wir in einer neuen Folge unserer Film-Weltreise erkunden wollen. Vielleicht machen die 10 ausgewählten Werke ja Lust, noch tiefer in die Materie einzutauchen und weitere Leinwandperlen zu entdecken?
von Christopher Diekhaus
1. «Tristana» (1970)
Catherine Deneuve in toxischer Beziehung
Darum geht’s: Als die Mutter von Tristana (Catherine Deneuve) stirbt, nimmt der verarmte Aristokrat und Lebemann Don Lope (Fernando Rey) die junge Frau in seine Obhut. Schnell lässt er sie spüren, dass er mehr für sie empfindet als ein normaler Vormund, und zwingt ihr eine Beziehung auf. Tristana fügt sich zunächst in ihr Schicksal, entwickelt mit der Zeit aber immer mehr Abscheu und will sich ihren Freiheitsdrang nicht verbieten lassen. Mit einem jungen Maler (Franco Nero) brennt sie schliesslich durch. Doch eine schwere Erkrankung führt sie irgendwann zu Don Lope zurück.
Sehenswert, weil… Filmlegende Luis Buñuel die Rückkehr in sein Geburtsland Spanien für eine bestechend kompromisslose Antiromanze nutzt. Der Haupthandlungsort Toledo wird zu einer eigenen Figur und trägt seinen Teil zur bitter-beklemmenden Wirkung dieser Adaption eines Romans von Benito Pérez Galdós bei. Lange vor Aufkommen der #MeToo-Bewegung beschreibt der Film facettenreich die Mechanismen des Machtmissbrauchs. Mit Tristana, famos gespielt von einer jungen Catherine Deneuve, begegnet uns hier eine Frau, die sich langsam freischwimmt und auf ihre ganz eigene Weise zum Gegenschlag ausholt. Wie immer richtet Buñuel einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen, die die handelnden Personen in vielerlei Hinsicht einengen.
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2. «Cría cuervos» (1975)
Bilderreigen einer beschwerlichen Kindheit
Darum geht’s: Nach dem Tod ihrer Mutter (Geraldine Chaplin) will die in angespannten Verhältnissen aufwachsende Ana (Ana Torrent) ihren untreuen Vater (Héctor Alterio) vergiften. Obwohl sie dazu ein harmloses Pulver benutzt, kommt er tatsächlich ums Leben. Im Glauben, die Macht über Leben und Tod zu haben, taucht das Mädchen fortan immer wieder in eine Traumwelt ab. Parallel leidet sie unter ihrer strengen Tante (Mónica Randall), zu der Ana und ihre Schwestern nach dem Verlust ihrer Eltern kommen.
Sehenswert, weil… Regisseur Carlos Saura den Zerfall der im Zentrum stehenden Bürgerfamilie geschickt als Metapher für die spanische Gesellschaft zum Ende der Zeit unter Diktator Francisco Franco einsetzt. Empathie ist spärlich vorhanden, Zusammenhalt eine Illusion und das Aufwachsen unter diesen Umständen ein echter Hindernisparcours. Hervorheben muss man vor allem die virtuose Inszenierung. Unterschiedliche Zeitebenen, Traum und Erinnerung werden in «Cría cuervos» fliessend miteinander verbunden. Magische Elemente haben für die kleine Ana eine grosse Bedeutung. Und immer wieder finden sich surreal angehauchte Momente. Insgesamt ergibt sich eine enorme atmosphärische Dichte. Spannend ist nicht zuletzt Sauras Entscheidung, seine damalige Muse Geraldine Chaplin in einer Doppelrolle zu besetzen – als Anas Mutter und als erwachsene Ana.
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3. «La mala educación» (2004)
Almodóvar auf den Spuren des Film noir
Darum geht’s: Sehr gelegen kommt dem verzweifelt nach neuen Filmstoffen suchenden Regisseur Enrique (Fele Martínez) der unerwartete Besuch eines jungen Mannes, der sich als sein Jugendfreund Ignacio (Gael García Bernal) zu erkennen gibt. Jener hat seine Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit in einer Klosterschule zu Papier gebracht und liefert dem Filmemacher damit endlich eine aufregende Vorlage für ein neues Projekt. Das Eintauchen in die eigene Vergangenheit, in der auch ein übergriffiger Priester eine wichtige Rolle spielt, ist allerdings kein Zuckerschlecken. Und noch dazu kommt Enrique hinter ein beunruhigendes Geheimnis.
Sehenswert, weil… Pedro Almodóvar lustvoll mit Projektionen, Fiktionen und Begehren jongliert. «La mala educación» ist komplex gebaut, gibt immer wieder neue Ebenen preis und hat trotz einer alles andere als leichtfüssigen Geschichte betörend schöne Bilder zu bieten. Der kreative Schöpfer mag als grosser spanischer Frauenregisseur bekannt sein. In dieser originellen Film-noir-Variante rückt er aber fast ausschliesslich männliche Figuren in den Fokus, die sich in gefährliche Ränke- und Liebesspiele verstricken.
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4. «Das Meer in mir» (2004)
Nuanciertes Sterbehilfedrama nach wahren Begebenheiten
Darum geht’s: Als Ramón Sampedro (Javier Bardem) nach einem Sprung in flaches Wasser querschnittsgelähmt ist, bricht für ihn eine Welt zusammen. Da er das Leben nicht mehr als lebenswert empfindet, möchte er auf eigenen Wunsch in Würde sterben. Während ihm dafür viel Ablehnung entgegenschlägt, sucht er nach Unterstützung und lässt sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Jahrelang kämpft er auf juristischem Weg und mithilfe veröffentlichter Gedichte darum, selbst entscheiden zu können, wann er stirbt.
Sehenswert, weil… Regisseur und Koautor Alejandro Amenábar die wahre Geschichte des Films auf behutsam-differenzierte Weise nachzeichnet. Sterbehilfe ist ein heikles Thema. «Das Meer in mir» bringt es dennoch fertig, alle Aspekte zu beleuchten und einfache Antworten zu umgehen. Immer wieder wird es ungemein emotional, ohne dass das Drama die Grenze zum Kitsch überschreiten würde. Zu verdanken ist dies auch Hauptdarsteller Javier Bardem, der seine sicherlich nicht einfache Rolle mit einer besonderen Wahrhaftigkeit interpretiert. Lohn für die Arbeit aller Beteiligten waren zahlreiche Preise, darunter die Auszeichnung als bester fremdsprachiger Film bei den Oscars 2005.
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5. «Das geheime Leben der Worte» (2005)
Bewegende Liebesgeschichte vor rauer Kulisse
Darum geht’s: Hanna (Sarah Polley), die in einer nordirischen Fabrik arbeitet, meldet sich während ihrer Urlaubszeit als freiwillige Krankenschwester auf einer Bohrinsel. Kümmern soll sie sich um den nach einem Unfall schwer verletzten, vorübergehend erblindeten Josef (Tim Robbins). Obwohl beide in sich gekehrte Menschen sind, finden sie mehr und mehr zueinander und teilen schmerzhafte Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit.
Sehenswert, weil… der vor einer unwirtlichen Kulisse ablaufende Film meistens die Balance zwischen Trauma und Optimismus findet und zwei eindringliche Charakterporträts entwirft. Auch wenn «Das geheime Leben der Worte» auf Englisch gedreht wurde und im Nordatlantik spielt, ist das Drama in dieser Liste keineswegs fehl am Platz. Den Hauptanteil der Produktion stemmten spanische Firmen, und mit Isabel Coixet stand eine der wenigen international bekannten Regisseurinnen der iberischen Halbinsel hinter der Kamera.
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6. «Pans Labyrinth» (2006)
Grausame Realität triggert Flucht in die Fantasie
Darum geht’s: Während im Sommer 1944 der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende ist, liegt der spanische Bürgerkrieg schon einige Jahre zurück. Das Land befindet sich im Klammergriff des Franco-Regimes, das gegen Feinde der Diktatur kompromisslos vorgeht. Als die kleine Ofelia (Ivana Baquero) zusammen mit ihrer schwangeren Mutter (Ariadna Gil) zu ihrem brutalen Stiefvater (Sergi López) kommt, flüchtet das Mädchen in eine Traumwelt und erfährt dort, dass sie Prinzessin eines Fabelreiches ist. Um zum Ort ihrer Herkunft zurückzukehren, muss sie allerdings drei Prüfungen bestehen.
Sehenswert, weil… die märchenhafte Parabel die Kraft der Imagination mit allen nur erdenklichen filmischen Mitteln feiert. Der für seine Monsterliebe bekannte Guillermo del Toro wartet mit unzähligen atemberaubenden Bildern, einem spektakulären Set-Design und eindrucksvollen Ungeheuer-Masken auf. Ofelias Parallelwelt ist wahrlich ein Ort, an dem man sich nicht sattsehen kann. Selten wird im Kino der Schrecken der Realität derart raffiniert mit dem Fantastischen verbunden. Wer mit dem Schaffen des umtriebigen Mexikaners vertraut ist, dürfte freilich über manche Grausamkeiten nicht überrascht sein. Im Zentrum mag ein Kind stehen. «Pans Labyrinth» ist deshalb aber noch lange nicht für kleine Zuschauer geeignet.
7. «Das Waisenhaus» (2007)
Die Kunst des schleichenden Grusels
Darum geht’s: Viele Jahre nach ihrem Aufwachsen in einem Waisenhaus kehrt Laura (Belén Rueda) an den Ort ihrer Kindheit zurück und will die längst geschlossene Einrichtung mit ihrem Ehemann Carlos (Fernando Cayo) wieder eröffnen. Sorgen bereitet dem Paar allerdings ihr an AIDS erkrankter Adoptivsohn Simón (Roger Príncep), der ständig von seinen neuen imaginären Freunden erzählt. Im Anschluss an einen Streit verschwindet der Junge spurlos, und Laura sieht sich immer stärker mit der Vergangenheit des Heims konfrontiert.
Sehenswert, weil… der Film keine krassen Schockeffekte braucht, um ein eindringliches Gefühl der Verunsicherung zu erzeugen. Regisseur Juan Antonio Bayona und Drehbuchautor Sergio G. Sánchez entfalten ihre Gruselgeschichte ohne die im modernen Horrormainstreamkino übliche Hektik, setzen ganz auf die bedrückende Atmosphäre der Situation und geben den ProtagonistInnen Raum für ihren Schmerz und ihre Trauer. Besonders aufwühlend ist die Auflösung der Frage, was es mit Simóns Verschwinden auf sich hat. Statt einen plumpen Twist aus dem Hut zu zaubern, überraschen die Macher mit einer absolut tragischen Offenbarung. Dass sich Bayona mit seinem Schauerstück vor dem spanischen Leinwandschaffen der 1970er-Jahre verneigen möchte, erkennt man unter anderem an der Besetzung einer Nebenfigur mit Altstar Geraldine Chaplin.
8. «La isla mínima» (2014)
Serienkillerhatz im Schatten der Franco-Diktatur
Darum geht’s: Nach dem Verschwinden zweier Teenagerschwestern im unwirtlichen Marschland des Guadalquivir im Süden Spaniens nehmen im Sommer 1980 zwei Ermittler aus Madrid ihre Arbeit auf. Als die übel zugerichteten Leichen der Vermissten gefunden werden, kristallisiert sich ein Muster heraus, das schlimme Befürchtungen nährt: Offenbar treibt ein Serienkiller in der sumpfigen Gegend sein Unwesen und nutzt die Sehnsucht junger Frauen nach einem Leben abseits der provinziellen Enge gezielt aus.
Sehenswert, weil… Alberto Rodríguez seinen Crime-Thriller zu einem erschütternden Sittenbild Spaniens nach dem Ende der Franco-Zeit ausweitet. Die Diktatur ist im Jahr 1980 schon Geschichte, und doch wirkt sie im Zusammenleben deutlich nach. In vielen Szenen ist ein durchdringendes Misstrauen zu spüren. Und, wie sich zeigt, sitzen alte Kräfte nach wie vor in einflussreichen Positionen, was die Aufbruchstimmung ausbremst. Gespiegelt wird das Ringen zwischen dunkler Vergangenheit und hoffnungsvoller Zukunft in den beiden gegensätzlich gezeichneten Polizisten. Die Frage nach dem Täter hat in «La isla mínima» nicht die oberste Priorität. Viel wichtiger ist es dem Regisseur, das gesellschaftliche Klima in stark fotografierte Bilder zu überführen. Der Film lebt vor allem von den kraftvollen Darbietungen seiner zwei Hauptdarsteller und seiner brütend-unheilvollen Atmosphäre.
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9. «Der unsichtbare Gast» (2016)
Wendungsreiches Thriller-Verwirrspiel à la «Rashomon»
Darum geht’s: Für Geschäftsmann Adrián Doria (Mario Casas) sieht es alles andere als gut aus. Er selbst wurde mit einer Kopfverletzung in einem von innen verschlossenen Hotelzimmer aufgefunden, in dem auch die Leiche seiner Geliebten Laura (Bárbara Lennie) liegt. Um einer drohenden Verurteilung zu entgehen, soll eine Staranwältin (Ana Wagener) mit ihm an einer Verteidigungsstrategie für den anstehenden Prozess arbeiten. Dabei ist sie entschlossen, endlich zur Wahrheit vorzudringen.
Sehenswert, weil… dem Thriller das beliebte, altbekannte Locked-Room-Motiv als Grundlage für ein dynamisches Rätselspiel dient. Wie in Akira Kurosawas Kinoklassiker «Rashomon» bekommen wir immer neue Versionen der Wahrheit serviert, können die Schilderungen selbst auf Widersprüche abklopfen und lassen uns so immer tiefer in den mysteriösen Fall hineinziehen. Die Schlusspointe von «Der unsichtbare Gast» mag bei Licht betrachtet etwas konstruiert sein. Schon Regielegende Alfred Hitchcock betonte aber stets, dass Glaubwürdigkeit keine grosse Bedeutung habe, wenn ein Film packend erzählt und effektiv inszeniert sei. Auf Oriol Paulos wendungsreiches Spannungspuzzle trifft das zweifelsohne zu!
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10. «Alcarràs» (2022)
Familiendrama trifft Zukunftsdiskussion
Darum geht’s: Die katalanische Grossfamilie Solé wird auf eine harte Zerreissprobe gestellt, als sie ihre geliebte Pfirsichplantage zu verlieren droht. Da der Landbesitzer auf dem Boden eine gigantische Solaranlage plant, könnten schon bald die ersten Bagger anrollen. Innerhalb der Familie wird das Vorhaben kontrovers diskutiert, wobei sich vor allem zwischen den Generationen Meinungsverschiedenheiten auftun.
Sehenswert, weil… Regisseurin Carla Simón eine aufregende Familiengeschichte auf fundierte Weise mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Debatten verbindet. Wie soll unsere Zukunft aussehen? Müssen wir für ein besseres Morgen liebgewonnene Traditionen aufgeben? Fragen wie diese umkreist das bei der Berlinale mit einem Goldenen Bären prämierte Drama ebenso leichtfüssig wie ausführlich und findet ausdrucksstarke Bilder, um das Verhältnis von Mensch und Natur zu beschreiben. Ungekünstelt und aufrichtig wirkt der von Simóns persönlichen Erfahrungen gefärbte Film vor allem dank seiner engagiert auftretenden Laiendarstellenden, die die Solé-Familie wirklich zum Leben erwecken.
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