Interview: Leonardo DiCaprio über «Killers of the Flower Moon»: «Es ist, als wären die Morde erst gestern passiert.»

Martin Scorseses neuer Film «Killers of the Flower Moon» wurde im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellt und kommt nun in unsere Kinos. Ein Interview mit dem Regisseur und seinen DarstellerInnen Robert De Niro, Leonardo DiCaprio, Lily Gladstone und Jesse Plemons.

Original-Interview in Englisch: Marine Guillain

«Killers of the Flower Moon» sorgte im Mai in Cannes für Aufsehen: Denn auch auf dem berühmten Festival sind die Legenden Martin Scorsese, Robert De Niro und Leonardo DiCaprio nicht alle Tage zu sehen. Vor allem nicht mit einem Dreieinhalb-Stunden-Film – einem historischen Western –, der auf der Mordserie am Volk der Osage in den 1920er-Jahren basiert. Zu der Zeit erlangten die Osage mit dem unter ihrem Land entdeckten Öl Reichtum, was sie zu einem der reichsten Völker der Welt machte. Dieser Reichtum wurde allerdings schnell auch von den Weissen begehrt – Betrug, Diebstahl, Verrat und sogar brutale Morde waren die Folge.

Der epische Western wurde von Apple Studios produziert und basiert auf einem Bestseller von David Grann. Martin Scorsese konzentriert sich auf die unwahrscheinliche Liebesgeschichte zwischen Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio, der bereits zum sechsten Mal mit dem italoamerikanischen Filmemacher zusammenarbeitet) und der Osage Mollie Kyle (umwerfend dargestellt von Lily Gladstone). Ihre Beziehung beginnt als arrangierte Ehe, die eigentlich Teil eines Komplotts von Ernests geldgierigem Onkel William Hale (Robert De Niro) ist. Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten und bezieht sich auf Personen, die tatsächlich gelebt haben.

«Ich verstehe nicht, wie meine Figur so etwas tun kann», sagt uns Robert de Niro beim Interview in Cannes. Leonardo DiCaprio erklärte, er habe sich tief in die Osage-Kultur eingearbeitet und wollte ausserdem so viel wie möglich über seine Figur erfahren: «Er war feige, gierig, opportunistisch und manipulativ. Er wurde selber von seinem Onkel manipuliert, aber ich glaube, dass er Mollie wirklich geliebt hat. Ihre Liebe war aufrichtig. In Gesprächen mit direkten Familienmitgliedern von Ernest hat mich beeindruckt, wie sehr es sich in ihren Erzählungen so anfühlt, als ob die Morde erst gestern passiert seien – obwohl sich das alles vor 100 Jahren abgespielt hat. Die Menschen sind davon noch immer zutiefst erschüttert.»

Die Wahrheit an erster Stelle

Für den Regisseur war es entscheidend, sich von der Erzählung in David Granns Buch über den FBI-Agenten Tom White, dem die Aufklärung der Morde zu verdanken ist, zu entfernen und sich auf das Volk der Osage zu konzentrieren – auch indem er Osage kennenlernte und möglichst viele von ihnen am Film mitwirken liess: «Es war mir enorm wichtig, ihnen den grössten Respekt entgegenzubringen und zu versuchen, so gut wie möglich zu verstehen, wer sie sind. In unserer Welt kann es eine Herausforderung sein, die Möglichkeit zu finden, anderen Kulturen und Menschen wirkliche Achtung entgegen zu bringen», führt Scorsese aus.

Jesse Plemons, der Tom White spielt, sagt, dass es ihm sehr geholfen habe, vor Ort zu sein: «Man benutzt immer seine Vorstellungskraft, wenn man eine Rolle anlegt, aber diesmal war das kaum nötig, weil wir so sehr in diese Welt hineingezogen wurden und in sie eintauchen konnten.» Da er in Texas aufgewachsen ist, denkt der Schauspieler zudem, dass etwas in seiner DNA dazu beigetragen hat, seine Figur besser verstehen zu können. «Ausserdem mag ich Western nicht so wirklich, die immer nur eine Seite der Dinge mit einer verzerrten Darstellung zeigen. Ich will, dass die Wahrheit gezeigt wird – und Martin Scorsese war ständig auf der Suche nach dieser Wahrheit.»

Das Drehbuch änderte sich im Laufe der Dreharbeiten immer wieder – eben um der Wahrheit näher zu kommen. Zu diesem Zweck mussten die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen ausserdem die Osage-Sprache lernen. «Die Sprachbehörde der Osage ist unglaublich gut organisiert, dieses Volk hat unglaubliche Schritte unternommen, um ihr Kulturerbe zu bewahren und das finde ich sehr ermutigend", erläutert Lily Gladstone, die mehr Text auf Osage hat, als der Rest des Ensembles. «Ich habe monatelang gelernt. Die Frauen sprechen einen etwas anderen Dialekt als die Männer. Die Bewahrung der indigenen Sprachen scheint mir von Natur aus mit meiner Weltanschauung verbunden zu sein, und so war es eine Ehre, diese Wörter sprechen zu dürfen.»

Ein dreifaches Wiedersehen

«Ich kenne Martin Scorsese schon lange, da wir aus derselben Gegend kommen, aber ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass unsere Beziehung so lange anhalten würde», erklärt Robert De Niro. «Ich habe Glück, aber ich weiss auch, wie man die richtigen Entscheidungen trifft! Dies ist der zehnte Film, den wir zusammen gemacht haben. Ich bin stolz auf diese Zusammenarbeit und wir haben wirklich Spass daran, zusammen zu drehen.»

«Tatsächlich war es De Niro, der DiCaprio gefunden hat», lacht der Regisseur. «Er rief mich an, als sie zusammen ‹This Boy’s Life› gedreht haben, und hat mir gesagt: ‹Weisst du, ich arbeite mit diesem Jungen und er ist wirklich gut. Du solltest mit ihm arbeiten!›». «Die Tatsache, dass Robert De Niro, den ich für den Goldstandard des Kinos halte, mich Scorsese als Schauspieler empfohlen hat und ich dann so viele Filme mit ihm machen konnte, ist unglaublich», sagt Leonardo DiCaprio. «Heute, 30 Jahre später, treffen wir uns alle drei wieder.»

Featurette mit dem Cast

«Killers of the Flower Moon» läuft ab dem 19.10.23 im Kino.