Review14. August 2017 Baris Erdal
Locarno Festival – Zürichs kalte, digitale Seele
In „Dene Wos Guet Geit“ von Cyril Schäublin folgt man der Erbschleicherin Alice durch ein emotional abgestumpftes Zürich. Mit trockenem Witz und nie gesehenen Bildern zeigt der Film die ganze Absurdität der digitalen Entfremdung.
Timo Posselt - der Autor dieser Kritik - ist Teil der Critics Academy des Locarno Festival 2017.
Alice arbeitet in einem Callcenter in Zürichs Speckgürtel. „Do isch Türli vo Everywhere Schwiiz“, sagt sie gefühlt tausendmal am Tag. Sie verkauft Handyverträge, Krankenversicherungen und macht Kundenbetreuung für Bankinstitute. Dabei lernt sie, wie man alte Leute um den Finger wickelt und beginnt, sich als deren Enkelin auszugeben. Schnell erbeutet sie viel Geld. Doch zwei Zivilfahnder sind ihr bereits auf den Fersen. Der Plot von Cyril Schäublins Debutfilm „Dene Wos Guet Geit“ ist mitten aus der Schweizer Lebenswirklichkeit gegriffen. Doch was er zeigt, hat man in den letzten Jahren im Schweizer Kino kaum gesehen. Die Figuren sprechen eigentlich nur von Telekommunikationsangeboten, Versicherungspolicen, kommunizieren in unverständlichen Filmnacherzählungen. Manchmal haben sie ganz die Worte verloren: Polizisten in Vollmontur reden bei der Personenkontrolle nur noch in Wifi-Passwörtern und IBAN-Nummern. Bei der Zigi-Pause starren die Fahnder mit den augenzwinkernden Namen Morf und Binggeli im Gespräch mit einem Zeugen ununterbrochen auf ihre Smartphones, keiner blickt mehr hoch.
Ebenso entfremdet wirkt in diesem Film das Finanz- und Wirtschaftszentrum Zürich: Beton-Pfeiler, kahle Wände und Autobahnauffahrten teilen das Bild in geometrische Flächen. Selbst Parkanlagen wirken in den Bildern von Künstler und Kameramann Silvan Hillmann kühl und abweisend. Auf langen Scouting-Touren durch die Stadt suchten er und Schäublin geeignete Locations. Das zahlte sich auch aus: Zürich hat man noch nie so gesehen.
Während der Film ganz ohne Musik auskommt, trägt die Tonebene zur bedrückenden Unentrinnbarkeit der Bilder bei. Es rauschen Autobahnen und surren Elektrogeräte. In seinem schonungslosen Blick auf die Profanität der Schweizer Lebensrealität erinnert Schäublin an den Schweizer Undergroundklassiker „Reisender Krieger“ von Christian Schocher (1981). Doch im Gegensatz zum Improvisationskünstler Schocher spürt man Hillmanns und Schäublins Gestaltungswillen in jeder Einstellung. Besonders befremdlich sind dabei die Anschlussfehler, die sie in ihren Film eingebaut haben: Von hinten gefilmt steht die Grossmutter, die Geld für Alice auf der Bank abhebt, am Anfang einer langen Schlange. Von vorne ist sie allein im Foyer. Diese bewussten continuity errors steigern das Unbehagen in Schäublins und Hillmanns Blick auf die Absurdität unseres Alltags.
So bedrückend die künstlerische Ausgestaltung von „Dene Wos Guet Geit“ sein mag, so sehr ist steckt in ihm auch ein trockener Humor: Während Alice ihr erbeutetes Geld ohne kritisches Nachfragen auf einer Privatbank deponieren möchte, läuft im Foyer ein Handwerker durchs Bild. In der Hand trägt er eine Schweizer Fahne und fragt, wo er sie aufhängen soll. Nationale Symbolik und die Selbstgefälligkeit des Schweizer Wohlstands sind bei Schäublin und Hillmann untrennbar. Der trockene Witz in vielen der Dialoge macht den radikalen Blick in die kalte Seele der Schweiz im Informationszeitalter eigentümlich unterhaltsam. Man darf gespannt sein, welchen Verleiher dieser Film finden wird. Schliesslich ist „Dene Wos Guet Geit“ einer der künsterlisch aufregendsten Schweizer FIlme der letzten Jahre.
Filmbewertung: 5/5 ★
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