Review20. September 2018 Julian Gerber
Netflix-Tipp «Land der Gewohnheit»: Die kleinen Dramen des Alltags
Männer in der Midlife-Crisis laufen einen Marathon oder gehen auf Reisen. Ben Mendelsohn hingegen zieht in «Land der Gewohnheit» als unglücklicher Ehemann und Vater die Reissleine und begibt sich auf die Flucht vor seinem tristen Alltag – geht dabei aber verloren.
Darum geht's
Gefangen im tristen Alltag entschliesst sich Anders Hill (Ben Mendelsohn), sein altes Leben hinter sich zu lassen: Er kündet seinen Job in der Finanzbranche und verlässt seine Frau Helene (Edie Falco), mit der er einen 27-jährigen Sohn (Thomas Mann) hat. Doch statt neu gewonnener Freiheit stellt sich beim Rentner schon bald ein Gefühl der Leere ein. Um diese Leere zu füllen, verbringt er seine Tage damit, Dekorationsartikel für sein neues Zuhause zu kaufen und sich in bedeutungslose Affären zu stürzen.
Als Anders sich mit dem drogenabhängigen Teenager Charlie (Charlie Tahan) anfreundet, macht der Frührentner mit einigen unrühmsamen Aktionen auf sich aufmerksam. Durch seine egoistischen Entscheidungen hat er nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Sohn geschadet, der nach Suchtproblemen versucht, im Leben Fuss zu fassen. Die Konsequenzen seines Handelns bereuend, will Anders seine Fehler wieder gerade biegen – doch mitten in der Krise bahnen sich auch schon die nächsten Probleme an.
Der Trailer
Gewohnheiten ändern dich
Ausbrechen aus gewohnten Strukturen, Neues erleben, seine Lebenslust wiederfinden: So hat sich Anders seine Flucht aus dem «Land der Gewohnheit» vorgestellt. Doch Nicole Holofceners Film hält für den Flüchtigen keine neuen Abenteuer bereit – stattdessen erwarten Anders Einsamkeit und Tristesse. Der Film etabliert ein Dilemma, das für die Hauptfigur keine Lösung bereithält. Drogen und Alkohol helfen ihm den Schmerz zu betäuben und stürzen ihn noch tiefer in die Depression. Nun sind es andere Gewohnheiten, an denen Anders zerbricht.
Vom jugendlichen Charlie erntet Anders Bewunderung für seine Entscheidung, sich vom konformen Erwachsenenleben loszureissen. In einer Welt, in der Schein mehr zählt als Sein, ist er der Einzige, der dem drogenabhängigen Teenager Gehör schenkt und Verständnis für ihn aufbringt – doch Anders ist selbst ein gebrochener Mann, der Charlie keine Stütze bieten kann. Es scheint, als seien die verkommenen Söhne in «Land der Gewohnheit» das Resultat einer überfürsorglichen Erziehung, die mehr auf das Auftreten der Kinder bedacht ist als auf ihr wirkliches Wesen.
Fazit
«Land der Gewohnheit» ist ein unspektakulärer Independent-Film, der geschickt das vermeintlich idyllische Leben in einer wohlhabenden amerikanischen Vorstadt seziert, wo Ansehen und Status so wichtig, dass die wahren Bedürfnisse des Menschen vergessen gehen. Der stark aufspielende Ben Mendelsohn gibt den Nestbeschmutzer, der es wagt, aus der vermeintlich heilen Welt auszubrechen, sein Glück aber trotzdem nicht findet.
Der Film kommt als Drama-Komödie daher, in der sich die lustigen Momente im Nachhinein jedoch als tragisch herausstellen. Das Drama äussert sich dabei nicht in gefühlsüberladenen Momenten, sondern spielt sich im Kleinen ab. Den Fokus legt die Regisseurin auf die sorgfältige Figurenzeichnung, die einen die charakterliche Entwicklung, vor allem von Anders, glaubwürdig nachvollziehen lässt. Jedoch wurde dabei die Story etwas vernachlässigt – so wirkt «Land der Gewohnheit» streckenweise episodenhaft und nicht wie eine kohärente Geschichte, die den Drang hat, erzählt zu werden.
3.5 von 5 ★
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