News25. September 2020 Irina Blum
16. Zurich Film Festival: In «Misbehaviour» sagt Keira Knightley dem Patriarchat den Kampf an
Das Zurich Film Festival wartet dieses Jahr vom 24. September bis zum 4. Oktober mit 165 Filmen aus aller Welt auf. Bei uns findest du hier einen laufend aktualisierten Überblick zu den neuesten Kritiken aus den verschiedenen Sektionen – von exklusiven Gala-Premieren hin zu Beiträgen im Wettbewerb.
Misbehaviour | Gala Premiere
Drama | UK, Frankreich | Philippa Lowthorpe
Wir schreiben das Jahr 1970. Die Miss World Wahlen werden weltweit am Fernsehen von 100 Millionen Menschen mit Spannung verfolgt. Sally Alexander (Keira Knightley), einer Geschichtsstudentin und Mutter eines kleinen Mädchens, ist das von der Show propagierte Frauenbild jedoch ein Dorn im Auge. Zusammen mit weiteren Aktivistinnen des Women’s Liberation Movement sieht sie in der diesjährigen Ausstrahlung des Events ihre Chance gekommen, um die Welt für ein modernes Frauenbild zu sensibilisieren. Zeitgleich zur Ausarbeitung ihrer Pläne bereitet sich Jennifer Hosten (Gugu Mbatha-Raw) auf die Misswahl vor. Als erste dunkelhäutige Miss World möchte sie gegen Rassismus und Diskriminierung ankämpfen.
«Misbehaviour» beruht auf wahren Begebenheiten und widmet sich einem einschneidenden Ereignis aus der Geschichte des Feminismus. Keira Knightley in der Rolle der angepassten Sally Alexander dabei zuzusehen, wie sie nach und nach zu einer Frau wird, die genau weiss, für was es sich zu kämpfen lohnt, ist eine wahre Freude.
The Nest | Gala Premiere
Psychodrama | UK, Kanada | Sean Durkin
Kurzkritik von Noëlle Tschudi:
Als Alison (Carrie Coon) Mitte der 1980er-Jahre wenig begeistert mit ihrem Mann (Jude Law) und ihren beiden Kindern von einem amerikanischen Vorort aufs englische Land zieht, bekommt sie von ihrer Mutter einen Ratschlag mit auf den Weg. Es sei nicht ihre Aufgabe, sich Sorgen zu machen, sondern diejenige ihres Mannes. Dieser wittert in seinem Heimatland eine Chance auf das grosse Geld. Ohne Umschweife mietet er einen Landsitz, der Platz für Allisons Pferde bieten soll. Schon bald aber droht die Familie auseinanderzubrechen: Mehr und mehr lastet der unerschwingliche Lebensstil und die Isolation auf all jenen, die nicht die Augen vor dem verschliessen, was um sie herum geschieht.
«The Nest» greift zeitlose Themen auf, zeigt ein Paar, das versucht ihr Ansehen zu wahren, jedoch unaufhaltsam von eigenen Lügen eingeholt wird. Getragen von einem fantastisch aufspielenden Schauspielerduo dürfte dieses durch seine bedrückende Stimmung geprägte und mit Metaphern durchzogene Drama dem einen oder anderen einen Spiegel vorhalten.
Preparations to Be Together for an Unknown Period of Time | Spielfilm Wettbewerb
Drama | Ungarn | Lili Horvát
Kurzkritik von Irina Blum:
Márta hat sich Hals über Kopf verliebt. An einer Ärztekonferenz hat sie den Ungaren János kennengelernt, für den die 40-Jährige nach vielen Jahren von Amerika in ihre ungarische Heimat reist. Ganz altmodisch und ohne Nummern auszutauschen haben die zwei sich einen Monat nach der Konferenz auf einer Brücke in Budapest verabredet.
Ihr Angehimmelter taucht am ausgemachten Treffpunkt jedoch nicht auf. Enttäuscht und wütend sucht sie János an seinem Arbeitsort auf und konfrontiert ihn mit dem verpassten Date. Als dieser behauptet, Márta noch nie gesehen zu haben, ist die Neurochirurgin zwar verunsichert – sie gibt aber nicht auf: Kurzentschlossen kündigt sie ihre angesehene Position in einer Klinik in New Jersey und mietet sich in Budapest eine Wohnung. Zwischen blinder Liebe und Wahnsinn versucht sie von nun an, das Missverständnis mit János zu klären…
Lili Horvát hält im Drama «Preparations to be together for an unknown period of Time» das Gefühlschaos der anfänglichen Verliebtheit fest und reichert es mit Thriller-Elementen an. Interessant gefilmt, unterlegt mit Schuberts „Gute Nacht“ und stark gespielt von Protagonistin Natasa Stork entwickelt sich der Film zu einer Parabel auf die Definition von Erfolg, Einsamkeit und den Mythos Liebe.
Eden für jeden
Komödie | Schweiz | Rolf Lyssy
Kurzkritik von Rolf Breiner:
Eine Zürcher Schrebergartenidylle als Mikrokosmos: In Rolf Lyssys neustem Kinoclinch werden multikulturelle Kontroversen ausgefochten. So wird unter anderem wird ein Wahlkampf lanciert, in dem die fesch-forsche Studentin Nelly kleinbürgerliche Fronten aufbricht. Die Schauspieler Steffi Friis als Rebellin im Familiengarten und Marc Sway als gemütlicher Samba-Musiker heimsen alle Sympathien ein. Eine amüsante, ironische Gesellschaftskomödie, die auf schönstem kleinbürgerlichen «Mist» gewachsen ist.
The Painter and the Thief | Dokumentarfilm Wettbewerb
Dokumentation | Norwegen, Schweden | Benjamin Ree
Kurzkritik von Noëlle Tschudi:
Barbora Kysilkova ist eine aus Prag stammende Künstlerin, der 2015 zwei ihrer Ölgemälde gestohlen wurden – am helllichten Tag aus einer Galerie in Oslo. Als sie den Dieb im Gerichtssaal vor sich hat, tritt sie auf ihn zu, um das Gespräch zu suchen. Sie bittet den Angeklagten, ihn porträtieren zu können und verbringt anschliessend an diese Begegnung immer mehr Zeit mit dem mysteriösen Straftäter. Hinter Gittern zu sein ist für Karl-Bertil nichts Neues. Selbstzerstörerische Tendenzen und seine Drogenabhängigkeit haben im Leben des mit Tätowierungen übersäten Mannes schwerwiegende Spuren hinterlassen – und doch verbindet ihn deutlich mehr mit Barbora, als die ersten Treffen dieser beiden vermuten lassen. Denn auch die Künstlerin hat mit eigenen Dämonen zu kämpfen. Und so wächst ihre Verbundenheit...
Als Regisseur Benjamin Ree Recherchen zum Thema Kunstraub betrieb, stiess er auf den Fall der beiden verschwundenen Werke von Barbora Krysilkova und liess sich auf ein gewagtes Projekt ein: Anstatt – wie ursprünglich geplant – eine 10-minütige Dokumentation über das Verbrechen zu schaffen, entschloss er sich, mit «The Painter and the Thief» über drei Jahre hinweg wahlweise aus Karl-Bertils und Barboras Perspektive zu schildern, wie aus einem Dieb die Muse einer Künstlerin wird. Rückblickend hat sich Rees mutige Herangehensweise voll und ganz ausgezahlt.
Entstanden ist eine Dokumentation, die wie ein Spielfilm anmutet, durch ihre wahrhaftigen Protagonisten allerdings umso mehr bewegt, mitfühlen und -fiebern lässt. «The Painter and the Thief» führt eindrücklich vor Augen, wie einschneidend eine Begegnung zweier Menschen sein kann, dass es nie zu spät ist, einen Neuanfang zu starten, und ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilt werden sollte. Vordergründig gelang Ree mit seinem neuesten Werk eine überraschungsreiche, dramaturgisch spannend aufgezogene Doku über die Suche nach zwei Gemälden. Vielmehr noch besticht «The Painter and the Thief» jedoch als Plädoyer für mehr Toleranz, als Film über Potenziale und Potenzialausschöpfung sowie die damit konstant mitschwingende Frage nach dem Was wäre, wenn.
I am Greta | Dokumentarfilm Wettbewerb
Dokumentation | Schweden | Nathan Grossman
Kurzkritik von Walter Rohrbach:
«I Am Greta» ist ein intimes und vielfarbiges Porträt von Greta Thunberg. Der Dokumentarfilm gewährt erstaunlich viele private Einblicke, die berühren. Und welche die emotionale Bandbreite ihrer ausserordentlichen Situation aufzeigen – von leicht tanzend oder laut lachend bis hin zu erschöpft weinend. All dies zeigt sehr eindrücklich die Sensibilität einer noch immer sehr jungen Person, auf welche viel Negatives projiziert wird. Natürlich könnte man in der Dokumentation den Personenkult von Greta noch kritischer und direkter diskutieren, und ihre Darstellung wirkt vereinzelt etwas allzu heroisch. Gelungen ist aber trotzdem eine erfreulich differenzierte Skizzierung einer Person, über die viel geschrieben und debattiert wurde.
Drachenreiter | ZFF für Kinder
Animation | Deutschland, Belgien | Tomer Eshed
Kurzkritik von Peter Osteried:
Ein junger Drache macht sich zusammen mit einem Koboldmädchen und einem Jungen, der gar keine Ahnung hat, was ein Drachenreiter eigentlich ist, auf um den Saum des Himmels, das Paradies für Drachen, zu finden. Doch die Reise ist gefährlich, denn sie werden von einem bösartigen Monster verfolgt. Die Adaption von Cornelia Funkes Roman ist ein wirklich schöner Animationsfilm, der es problemlos mit grossen US-Produktionen aufnehmen kann.
Never Rarely Sometimes Always | Spielfilm Wettbewerb
Drama | USA | Eliza Hittman
Kurzkritik von Walter Rohrbach:
Die Regisseurin Eliza Hittman legt mit «Never Rarely Sometimes Always» ein Drama vor, das auf ganzer Linie überzeugt. Mit feinen Zügen porträtiert sie unaufgeregt und mit realistischen Bildern das Schicksal von Autumn, ohne ihre Misere sensationell zu machen oder den Film allzu stark in Richtung Melodrama kippen zu lassen. Eindrücklich zeigt sie die konkreten Auswirkungen von gesellschaftlichen Regeln auf, welche die Selbstbestimmung beschneiden. Damit ist dieser Film überaus gelungen und wird im feministischen Kino berechtigterweise seine Spuren hinterlassen.
Wanda, mein Wunder | Gala Premiere
Tragikomödie | Schweiz | Bettina Oberli
Kurzkritik von Noëlle Tschudi:
Die Polin Wanda kümmert sich Tag und Nacht um den 70-jährigen nach einem Schlaganfall gelähmten Wegmeister-Gloor, der mit seiner Familie in einer Villa am See wohnt. Mit ihrer aufgeweckten Art bringt die 35-Jährige Licht in das Leben des Rentners. Doch seiner Frau und Tochter ist sie ein Dorn im Auge. Während seine Gattin die Freundschaft zwischen ihm und der Bediensteten kritisch beäugt, beschuldigt Sofie Wanda des Diebstahls. Als Wanda schliesslich ungewollt von Josef schwanger wird, herrscht helle Aufruhr in der Villa, und zahlreiche Spekulationen werden ins Rollen gebracht. Bettina Oberlis Tragikomödie eröffnete die diesjährige Ausgabe des Zurich Film Festival am 24. September. Der Film überzeugt mit seinen zahlreichen Wendungen, regt zum Nachdenken an und wirft ein Licht auf das im Kino selten aufgegriffene Thema der Care-Migration.
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